Spannungsfeld von Stabilität und Veränderung
Obwohl es sich hierbei nicht um eine philosophische Abhandlung handelt, erweist es sich als nützlich, auf den philosophischen Begriff der Stabilität zurück zu greifen:
„Eigenschaft oder Zustand eines Systems der zufolge das System in der Lage ist, gegenüber einer Störung oder einer Klasse von Störungen sein Gleichgewicht zu wahren oder die Störung in der Weise zu bewältigen, dass es selbsttätig in den Zustand eines Gleichgewichts zurückkehrt.“13
Zunächst ist die philosophische Erkenntnis festzuhalten, dass das Gleichgewicht zur Wesensbestimmung der Stabilität gehört. Diese Erkenntnis kann etwas modifiziert, auf die internationalen Beziehungen angewandt werden. In der politologischen Literatur wird der Stabilitätsbegriff verwirrend verwendet, worauf J. Frankel zu Recht aufmerksam macht: „Stability is a frequently explored aspect of international systems. It ist sometimes confusingly applied either to structural stability i. e. the continuation across time of the essential variables of the system without major change, or to dynamic stability which denotes a tendency to move towards an equilibrium following disturbances”.14
Hiermit werden einige theoretische Fragen aufgeworfen: Genannt sei vor allem jene nach dem eigentlichen Wesen der Stabilität: Ist sie statisch oder vielleicht dynamisch aufzufassen? Die Beantwortung dieser Frage ist insofern diffizil, da Statik und Dynamik ebenfalls sehr interpretationsfähige Begriffe sind. Die Statik hat z. B. in der Politik (Innen- und Außenpolitik) sowie im Recht (Landes- und Völkerrecht) zwei Hauptzüge aufzuweisen: Zum einen ist das Beharren einer politischen Erscheinung in einem Zustand, der in seiner
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13 Klaus, G. (1969), Stichwort „Stabilität“ in: Philosophisches Wörterbuch (hrsg. von G. Klaus/M. Buhr), Band 2, Leipzig, S. 117. Ähnlich lautet die soziologische Stabilitätsdefinition: „Eigenschaft eines Systems bei Abweichung von einem Gleichgewicht aufgrund von Störungen (externer Impulse) zu einem Gleichgewichtszustand zurückzukehren. Der Bereich von Abweichungen um einen bestimmten Gleichgewichtspunkt, innerhalb dessen das System zum Gleichgewicht zurückkehrt, heißt Souveränitätsbereich“. Wienhold, H. (1995), Stichwort „Stabilität“ in: Lexikon zur Soziologie (hrsg. von W. Fuchs-Heinritz et alt.), Opladen, s. 638/639.
14 Frankel, J, (1973) , Contemporary international theory and the behaviour of state , Oxford/New York, pp. 10/1 ss.
Wesenheit schlecht oder gut, progressiv oder konservativ sein kann. Dies gilt für die Politik genauso wie für das Recht. Zum anderen gehört im Recht die Rechtssicherheit.
Die Praxis der internationalen Beziehungen zeigt jedoch, dass vielfältige Entwicklungen die Schaffung neuer Normen des Völkerrechts notwendig machen (Kodifikation des Völkerrechts).
Die Dynamik hingegen impliziert a priori Entwicklung und Veränderung, was zumindest begrifflich der Stabilität widersprechen würde. Hierbei gilt es, ein Kriterium zu finden, das die dynamische Stabilität stützen würde. Ein solches Kriterium wäre z. B. die Gewährleistung des Weltfriedens. Legt man ihn den angestellten Überlegungen zugrunde, so würde die Stabilität in den internationalen Beziehungen in erster Linie die Aufrechterhaltung des Weltfriedens bedeuten.
Dies wiederum erfordert weitere Schritte, um den Weltfrieden sicherer zu machen. Sie würden zu einer weiteren Verbesserung die Stabilität auf einer höheren Ebene und damit zu einer Qualitätswandlung führen. Diese friedensbejahende Stabilität wird gegenwärtig durch die oben erwähnten Abrüstungsverträge zwischen den USA und Russland erreicht. Dies gilt auch für eine bessere Kontrolle von Atommaterial, auch mit dem Ziel, dass es nicht in die Hände von Terroristen fällt.
Die Stabilität in den internationalen Beziehungen erstreckt sich hauptsächlich auf stabile friedliche Beziehungen, die den Grundinteressen aller Völker entsprechen.15 Dies kann sich auch auf das Gebiet der nuklearen Abrüstung erstrecken. Gerade dieser Aspekt wurde in relativ vielen Dokumenten unterstrichen.
In diesem Zusammenhang taucht die Formulierung der „strategischen Stabilität“ auf. So heißt es z. B. in der Präambel des SALT-II-Vertrages vom 18. Juni 1979: „In Anerkennung der Tatsache, dass die Stärkung der den Interessen der Seiten und den Interessen der internationalen Sicherheit entspricht…“.16 Raymond Aron betrachtet eine Lage als militärisch stabil („militärische Stabilität“), wenn keiner der beteiligten Staaten versucht, Gewalt anzuwenden „und zwar auch dann nicht, wenn er mit dem status quo nicht zufrieden ist“.17 Dieser Auffassung kann man uneingeschränkt
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15 Vgl. ähnlich auch Stupak, R./Gilman, S. (Anm. 8, p. 139).
16 Dokument in: Völkerrecht, Dokumente, Teil 3, Berlin 1980, S. 1070.
17 R. Aron (Anm. 9, S. 207).
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zustimmen. Eine unerlässliche Voraussetzung der strategischen Stabilität ist das „strategische Gleichgewicht“. In der „Gemeinsamen Erklärung über die Prinzipien und die Hauptrichtungen künftiger Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen zwischen der UdSSR und den USA“ vom 18. Juni 1979 bekunden beide Atommächte ihre Entschlossenheit, „um die Gefahr des Ausbruchs eines Kernwaffenkrieges zu verringern und anzuwenden, weiterhin nach Maßnahmen zur Festigung der strategischen Stabilität, unter anderem durch die Begrenzung der strategischen Offensivwaffen, die das strategische Gleichgewicht destabilisieren … zu suchen“.18
Von der strategischen Stabilität ist die politische Stabilität im Sinne der Aufrechterhaltung des sozialpolitischen Status quo in der Welt zu unterscheiden. Wie der friedliche Zusammenbruch des „sozialistischen Weltsystems“ deutlich gezeigt hat, kann es eine derartige Stabilität nicht geben.
Davon wiederum ist die Stabilität im Sinne des Völkerrechts zu unterscheiden. Sie ist hauptsächlich als Rechtssicherheit aufzufassen. Sie setzt die unbedingte Achtung der Prinzipien und Normen des Völkerrechts voraus.19 Dies gilt in besonderem Maße für das Prinzip der Vertragstreue (Pacta sunt servanda), denn eines der Ziele der internationalen Vertragsabschlüsse ist, im Interesse der Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit stabile und beständige internationale Beziehungen zu schaffen.20 Konkret bedeutet dies, dass auch die Verträge auf dem Gebiet der Rüstungsbegrenzung und der Abrüstung strikt einzuhalten sind.
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18 Dokument in: (Anm. 16, S. 1079 ff.
19 Dies wird von E. Menzel und K. Ipsen unter der „Ordnungsfunktion“ des Völkerrechts subsummiert. Vgl. Völkerrecht, Ein Studienbuch, München 1979. S. 15.
20 Theoretische Fragen der Vertragsstabilität wurden hauptsächlich in folgenden Arbeiten behandelt:Bourguin, M. (1938). Stabilité et mouvement dans l` ordre juridique international, in: Recueil des cours de l` Academie de dreit international de la Haye, II, Vol. 64 p. 347 ss, und Bolintineanu, A. (1969). Stabilitatea tratatelor-problema esentiala a codificarii dreptului tratatelor, in: Revista romana de drept 1, p. 66, Bucuresti. Zum Teil gilt dies auch für S. Myslil, S. (1974), Kodifikace smluvniho prava, in: Gasopis pro mezinarodni prave, XV, Nr. 2 Praha S. 183. M. Virally, M (1966), betrachtet bereits den völkerrechtlichen Vertrag als ein Mittel, um die Beziehungen der Staaten “auf einer stabilen Basis zu regeln”. Vgl. Reflections sur le „jus cogens“, in: Annuaire Francais de Droit International, XIII, Paris p. 10.
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Die im philosophischen Sinne vorhandene engste Beziehung zwischen der Stabilität und dem Gleichgewicht gilt ebenso in den internationalen Beziehungen und speziell für die Materien der Abrüstung. Darauf ist bereits seitens einiger Politologen hingewiesen worden.21 Der Auffassung hingegen von R. Aron kann nicht gefolgt werden. Er schlägt vor, den Begriff „Gleichgewicht“ durch jenen der „Stabilität“ zu ersetzen. Dies würde in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit komplizierten Gegenständen zu großen Unschärfen führen.
In direktem Verhältnis zur Stabilität steht der status quo. Dabei kommt es auf den konkreten Bezug an. Geht es um den sozial-politischen Zustand, so ist eine Abmachung darüber so gut wie ausgeschlossen.
Davon wiederum ist die grundsätzliche Respektierung der sozial-politischen Ausrichtung eines Staates zu unterscheiden, vorausgesetzt, dass die grundlegenden Menschenrechte respektiert werden.
Handelt es sich um den militärstrategischen Zustand, so sind konkrete Abmachungen über das Festschreiben dieses Zustandes normal und notwendig. Dies ist der Fall bei einem Moratorium der Rüstungen. Verglichen damit ist jedoch eine Rüstungsreduzierung, d. h. Dynamik auf einem niedrigeren Niveau oder sogar die Abrüstung friedensbejahender. Somit läge ein dynamischer status quo vor.22 Die militärstrategische Komponente ist allerdings eine unter mehreren wie z. B. die Wirtschaftskraft, der Industrie und Technologiestand etc. Eine wesentliche Veränderung dieser Komponenten könnte unter Umständen zu einer Störung des Gleichgewichts führen.
Sogar innerhalb des militärstrategischen Gleichgewichts sollte zwischen den konventionellen Waffensystemen und den Kernwaffen unterschieden werden. Veränderungen dieser Elemente würden unweigerlich zu einer Störung des Gleichgewichts führen, was die relativ schnelle Schaffung von Gegengewichten herbeiführen könnte.
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21 Vgl. Beispielsweise die folgenden Autoren : Morgenthau, H. (Anm. 4, S. 146). Das Gleichgewicht ist ein „wesentliches Element der Stabilität“, Schwarzenberger, G. (1955), Machtpolitik, Eine Studie über die internationale Gesellschaft („A Study of International Society“, New York, 1951), Tübingen 1955, S. 113: „Koalitionen, Gegenkoalitionen können unter günstigen Bedingungen zu einer begrenzten Stabilisierung der internationalen Beziehungen führen. Eine solche Konstellation bezeichnet man als Gleichgewicht der Kräfte“; Kissinger, H. (1969), Amerikanische Außenpolitik, Düsseldorf/Wien, S. 135 betrachtet es als Dilemma für die USA, „dass es keine Stabilität ohne Gleichgewicht gegen kann“.
22 A. Nussbaum betrachtet Sa Mächtegleichgewicht, das auf eine Aufrechterhaltung des status quo abzielt an und für sich als „ein Axiom der hohen Diplomatie. Dieser Verabsolutierung kann nicht gefolgt werden. Er unterscheidet ohnehin nicht zwischen dem sozial-politischen und dem militärstrategischen Gleichgewicht. Vgl. Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, München/Berlin, 1960, S. 153. Im Unterschied dazu kann der Ansicht von W. Grewe (Anm. 1, S. 17) zugestimmt werden: Die damaligen Supermächte waren speziell an einem militärisch-strategischen Gleichgewicht interessiert. Der friedliche sozial politische Wandel sei weiterhin ein Ziel des Westen gewesen.
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Den Gegenpol der Stabilität bilden die Veränderungen in den internationalen Beziehungen. Derartige Veränderungen besitzen einen vorrangig objektiven Charakter. Zu ihnen gehören in erster Linie die Zuspitzung der globalen Herausforderungen der Menschheit. Eine weitere Veränderung mit gewaltigen Konsequenzen für die internationalen Beziehungen ist das allmähliche Wachsen Chinas zu einer Supermacht.
Auch im Völkerrecht vollziehen sich Veränderungen, die jedoch das Ergebnis der vobuntas iuris der Staaten sind, obwohl die tieferen Ursachen objektiv bedingt sind.
Das Völkerrecht ist nicht statisch, sondern dynamisch. Hierauf hat bereits einer der Väter der Völkerrechtswissenschaft, der berühmte spanische Jurist und Theologe Francisco Suarez hingewiesen: Er meinte, „dass das Völkerrecht, soweit es von menschlicher Übereinkunft abhängt, veränderlich ist.“23 Dies bedeutet in concreto, dass das Völkerrecht Veränderungen unterworfen ist.24 Diese Aussage gilt jedoch für sämtliche ius cogens Prinzipien und Normen des Völkerrechts nur bedingt.
Bei den Veränderungen des Völkerrechts geht es der Zielstellung nach um eine Anpassung des Völkerrechts an veränderte Bedürfnisse der internationalen Staatengemeinschaft. Je schneller diese Anpassung erfolgt, umso vollkommener ist das Rechtssystem in den internationalen Beziehungen. In der völkerrechtlichen Fachliteratur hat vor allem Wilfred Jenks immer wieder das Anpassungserfordernis unterstrichen, das er offenkundig als Bestandteil des von ihm entworfenen „common law of mankind“ ansieht.25 In diesem Sinne ist das Völkerrecht tatsächlich Ausdruck eines konkreten Kräfteverhälsnisses.26
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23 Ausgewählte Texte zum Völkerrecht, Band IV („Die Klassiker des Völkerrechts in modernen Übersetzungen“). hrsg. von W. Schätzel, Tübingen 1965, S. 75.
24 In dieser Beurteilung stimmen wir mit Röhling, B. (1960), International law in an expanded world, Amsterdam, p. 87, überein. G. Morelli meint zu dieser Problematik, dass bei einer Nichtanpassung des Völkerrechtssystems an die veränderte Welt ein Widerspruch entsteht. Vgl. Nozioni di diritto internazionale, Padova, 1963, pp. 46 ss.
25 Ihm ist vorbehaltlos zu folgen, wenn er schreibt: “The law of nations, like the common law, must grow out of and reflect the expansing and changing needs of life in society. The common law of mankind must be an expression of and response to human need …” Jenks, W. (1965), Unanimity, The Veto, weighted voting, in: Cambridge Essays in International Law, London/New York, p. 63.
26 Vgl. ähnlich auch Chemillier-Gendreau, M. (1975), A´propos de l effectivité en Droit International, en : Revue belge de droit international, 1/II, p. 41. Es wird zugleich zu Recht darauf hingewiesen, dass Rechtsnormen auch über mögliche Veränderungen des Kräfteverhältnisses ihren Charakter behalten müssen (p. 43).
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Veränderungen in den realen internationalen Beziehungen wirken sich auf die zwischenstaatlichen Vertragsbeziehungen aus. Dies findet seine Widerspiegelung in der „Norm der grundlegenden Veränderung der Umstände“ (dem Wesen nach die alte Regel „Clausula rebus sic stantibus“).
Nach dieser Norm kann unter bestimmten Bedingungen eine grundlegende Veränderung der Umstände gegenüber jenen, die zur Zeit des Vertragsabschlusse bestanden und die von den Vertragspartnern nicht vorausgesehen werden konnten, als Grund für die Beendigung des Vertrages oder den Austritt auf ihm geltend gemacht werden.27 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Norm der grundlegenden Veränderung der Umstände und der Pacta sunt servcanda.
Zwischen ihnen besteht ein großer qualitativer Unterschied: Während erstere eine Regel des internationalen Vertragsrecht ist, stellt die Pacta sunt servanda in der Ausformulierung der UN-Charta ein grundlegendes Prinzip dar. Diese Klarstellung ist für die Verträge zu den Materien des militärstrategischen Gleichgewichts von eminenter Bedeutung. Die Priorität der Vertragstreue erweist sich auf diesem Gebiet als betont friedenserhaltend.
Insgesamt sollten Veränderungen in den internationalen Beziehungen nicht leichtfertig zu Vertragsverletzungen führen. Die Vertragserfüllung schafft hingegen stabile und friedliche internationale Beziehungen, die der Friedenserhaltung dienen.28 Aus der Sicht des Völkerrechts ist entscheidend, ob durch die Stabilität und die Veränderungen bestehende und geltende Rechtsnormen verletzt werden. So kann zwar einerseits die Stabilität nicht bedeuten, dass Rechtsnormen weiterhin existieren, obwohl sie von der Entwicklung der internationalen Beziehungen völlig veraltet geworden sind. Andererseits können jedoch erfolgte Veränderungen nicht automatisch bestehende Normen und Verträge außer Kraft setzen. Im Völkerrecht geht es allgemein um ein ausgewogenes Verhältnis von Stabilität (Achtung der
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27 Vgl. hierzu ausführlicher Terz, P. (1979), Wesen und mögliche Auswirkungen von grundlegenden Veränderungen der Umstände auf die Gültigkeit zwischenstaatlicher Verträge, in: Przeglad Stosunkow Miedzynarodowych, Nr. 6, S. 115 – 130 (in Polnisch).
28 Ein ähnlicher Gedanke klingt an auch bei Frankel, J. (1973), Contemporary intenational theory and the behaviour of states, Oxford/New York, p.173, Er meint, dass unter „Umständen“ die Veränderung die Stabilität erhöhen kann, indem Elemente der Instabilität vermindert werden.
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grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts, stabile zwischenstaatliche Vertragsbeziehungen) und Veränderung (Weiterentwicklung des Völkerrechts in erster Linie auf vertraglicher Grundlage bei gleichzeitiger Respektierung des ins cogens). Es wäre allerdings unkorrekt, von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Pacta sunt servanda und der Clausula rebus sic stantibus zu sprechen29, weil sie zwei völlig unterschiedliche Ebenen des Völkerrechts zum Ausdruck bringen.