Gerechtigkeit, Gleichheit

Gerechtigkeit, Gleichheit
1. Gerechtigkeit
Die Gerechtigkeit ist ein komplexes Phänomen. Daher ist nur eine partielle Beschäftigung mit dem Thema möglich. Es stellen sich viele Fragen. Wir erwähnen hier nur die wichtigsten davon: α) Um welche Art von Gerechtigkeit geht es? Ist sie subjektiv oder objektiv? Ist sie wirtschaftlich, sozial, politisch oder rechtlich? b) Wer und nach welchen Kriterien bestimmt den Inhalt der Gerechtigkeit? c) Wer könnte Subjekt oder Objekt der Gerechtigkeit sein? Zur Gerechtigkeit en general Subjektive Gerechtigkeit: Sie ist eine Tugend, eine allgemeine Haltung des Menschen, das heißt, sie ist die Grundtugend, die alle anderen Tugenden beeinflusst und damit den grundlegenden Verhaltenskodex eines Menschen bestimmt, der im Allgemeinen auf der Basis von Tugenden lebt. In diesem Sinne ist Gerechtigkeit ein Grundbegriff der christlichen Theologie und besteht im Gehorsam des gläubigen Christen gegenüber dem Willen Gottes, der das einzige Gesetz seines Willens und Handelns ist. Objektive Gerechtigkeit: Es handelt sich um eine Idee oder einen Grundsatz als Kriterium für die Bewertung von Regeln (Verfassungen, Gesetze und soziale Normen), Handlungen und Taten von normalen Bürgern oder sogar Politikern. Hier stellen sich zwei Fragen: a) Wie ist es möglich, jedem Menschen sein Recht zuzugestehen? Hier stellt sich das Problem der sozialen Gerechtigkeit im Kontext der Gleichheit. b) Wie können wir moralische und rechtliche Verhaltensregeln als gerecht betrachten, auch wenn sie unserem moralischen Willen widersprechen? Verhaltensregeln drücken das Allgemeine aus (vgl. J. Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie, Philosophie und Wissenschaftstheorie, vier Bände, Mannheim, 2004, Bd. 1, S. 745/746). Diese Fragen haben die wichtigsten antiken griechischen Philosophen, insbesondere Aristoteles, beschäftigt.
Wir haben in einer vergleichenden Studie gezeigt, dass im Vorderen Orient, wo die ersten Hochkulturen der Menschheit entstanden, die Gerechtigkeit eine besondere Rolle spielte. In Sumerien (vor 3500 bis 4000 Jahren) z,B., war die Gerechtigkeit das Geschenk eines Gottes (wie im heutigen Christentum) oder eines Königs. Von den vielen ähnlichen Texten werden wir nur diejenigen erwähnen, die auch in der Gegenwart eine gewisse Bedeutung haben. König Lipitischtar rühmt sich selbst als Verfechter der Gerechtigkeit und betont: “Der Starke raubt nicht, der Starke tut dem Schwachen kein Unrecht”. In der Zeit 2220 v. Chr. wurde in Ägypten ein wertvoller Text aufbewahrt, aus dem hervorgeht, dass die Vorstellungen von Gerechtigkeit tatsächlich klassenbezogen sind. Zu dieser Zeit fand die erste soziale Revolution in der Geschichte der Menschheit statt. Der Pharao wurde gestürzt und die Revolutionäre haben die Macht übernommen. Ein Höfling und Hohepriester schrieb unter anderem Folgendes: “Angeblich herrscht in diesem Land Gerechtigkeit. Aber es ist ungerecht, was sie in ihrem Namen tun. Die Reichen sind unglücklich und die Armen freuen sich…”.
Auf jeden Fall ist es interessant zu erwähnen, dass chinesische Philosophen sich intensiv mit sozialer Gerechtigkeit beschäftigt haben. Der Philosoph Mong Dsi aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. formulierte beispielsweise die Ansicht, dass die Gerechtigkeit im richtigen Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten liegt (“Gau Dsi”, VI, A, 17). Diese Ansicht ist sehr zeitgemäß und richtig. Es ist unglaublich, aber wahr, dass 2400 Jahre später in der Grundeinstellung der Völker auf dem Balkan Verpflichtungen überhaupt keine Rolle spielen, weil sie kein Rechtsbewusstsein haben, sondern nur einen überentwickeltes “Gerechtigkeitsgefühl” besitzen, das nach eigenem Gutdünken interpretiert wird. Ein anderer chinesischer Philosoph und Vertreter der Mittelschicht, Mo Dsi, vertrat folgende Ansicht: “Humanismus ist Liebe, Gerechtigkeit ist eine gute Tat”. Das erinnert uns ein wenig an Epikur. Der Philosoph Hsün Dse (3. Jh. v. Chr.), der für sein negatives Menschenbild bekannt war, stellte einen Gegensatz her, indem er betonte, dass es einen Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Utilitarismus gibt (“der Wunsch, Eigennutz zu erreichen, unterdrückt die Gerechtigkeit”). Es werden zwei Arten von Interessen unterschieden: a) das individualistische Interesse, das was ungerecht ist, und b) das Interesse des Ganzen, was gerecht ist.
Der Daoismus, eine humanistische Religion und Philosophie, forderte, dass das Individuum und seine Interessen nicht eingeschränkt werden sollten. E bejahte die Gerechtigkeit nur für die Bauern, während die Rechtspositivisten das Gerechtigkeitspostulat mit der Begründung ablehnten, dass Gerechtigkeit in den Gesetzen bereits enthalten sei.
Was die alten griechischen Philosophen betrifft, stellen wir finden wir eine große Abhängigkeit ihrer philosophischen Ansichten von der sozialen Herkunft und der politischen Positionierung fest. Der materialistische Philosoph, Demokrat und Vertreter des Bürgertums, Demokrit (Δημόκριτος) z.Β., hat sich nie mit vager und allgemeiner Gerechtigkeit befasst, sondern sondern hat diese mit dem konkreten Handeln des Einzelnen in seinem eigenen Interesse verbunden. Thrasymachos (Θρασύμαχος)weist in seinem Dialog mit Sokrates auf (Platon, Politeia, I, 343a-3444c) das Folgende hin: Sokrates weiß, dass Gerechtigkeit und Recht und Gerechtigkeit in Wirklichkeit nur dem Stärkeren und dem Stärkeren zugutekommen, aber es ist der Schaden desjenigen, der gehorchen muß. Das heißt, Thrasymachos wollte darauf hinzuweisen, dass der Nutzen des Stärkeren mit der Gerechtigkeit identisch ist. Es ist nur natürlich, dass Demokrits philosophischer Gegner, der der idealistische “Philosophenfürst”und Vertreter der Sklavenhalterordnung Platon auch bei der Frage nach der Gerechtigkeit anders dachte als Demokrit: : “Was jeder Staat für gerecht und gut hält, das ist in der Tat gerecht und gut, solange der Staat es für gerecht und gut hält.” (Politeia, Theatet, 167B, 168B, meine Übersetzung). Es lohnt sich, dies zu interpretieren. α) Der Staat funktioniert im Wesentlichen wie ein orientalischer Despot, der die Gerechtigkeit nach seinem eigenen Geschmack und seinen Interessen durchsetzt und ihre Grenzen bestimmt. b) Zwischen dem Staat und dem Bürger besteht ein Verhältnis der Subordination, was den absoluten Vorrang des Staates vor dem Bürger bedeutet. c) Der Bürger hat weder das Recht noch im Allgemeinen die Möglichkeit, sich an der Gerechtigkeit zu beteiligen. d) Platon beabsichtigte offenkundig, das Sklavensystem aufrechtzuerhalten. e) Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass Platon teilweise totalitär dachte. Vielleicht war dies der Grund, warum die Deutschen Nationalsozialisten haben von allen alten hellenischen Philosophen nur Platon als solchen anerkannt haben.
Sein Schüler Aristoteles war realistischer und kreativer und hat in seinen berühmten Werken seine Werken “Politik”(Πολιτικά) und “Nikomachische Ethik” (“Ηθικά Νικομάχεια”,das gesamte Kapitel 5) eine Gerechtigkeitstheorie erarbeitet: «δίκαιον διορθωτικόν», «δίκαιον συναλλάγμασι διορθωτικόν» και «δίκαιον διανεμητικόν».
Wir werden hier nur die wichtigsten Elemente dieser Theorie erwähnen:
α) Die Forderungen der politisch-sozialen Gruppen oder Schichten an die Gerechtigkeit sind subjektiv und auf sie beschränkt. b) Die Schwachen in einer Gesellschaft fordern Gerechtigkeit, während die Starken sich nicht viel darum scheren. c) Gesetze enthalten im Allgemeinen Gerechtigkeit.
Aristoteles hat die Gerechtigkeit meisterhaft mit der Gleichheit verbunden, nämlich: “Was dem Gleichen gegeben wird, ist gerecht und ist es nicht, wird aber nicht immer dem Gleichen gegeben, und was dem Ungleichen gegeben wird, ist gerecht und ist es nicht, wird aber nicht immer dem Ungleichen gegeben”. (Politik C, 9, 1280a, 10-13 und “das Gesetz ist ein Vertrag und, wie Lykophron der Sophist sagte, ein Garant für alle Gerechten, aber nicht einer, der die Bürger gut und gerecht macht” (ebd. 1280b, 9, 10-13 ). Im altgriechischen Original: “Οίον δοκεί ίσον το δίκαιον είναι, και
έστιν, αλλ’ ου πάσιν αλλά τοις ίσοις  και το άνισον δοκεί δίκαιον είναι, και γαρ έστιν, αλλ’ ου πάσιν αλλά τοις ανίσοις”.(Πολιτικά Γ, 9, 1280α, 10-13  και   “ο νόμος συνθήκη και, καθάπερ έφη Λυκόφρων ο σοφιστής, εγγυητής αλλήλοις των δικαίων, αλλ’ ουχ οίος ποιείν αγαθούς και δικαίους τους πολίτας”(ό.π. 1280β, 9, 10-13 ). Bedeutung: In der Gesellschaft gibt es unterschiedliche Menschen, zum Beispiel reiche und arme, kleine und große Familien. Wenn Gesetze auf sie nach dem Prinzip der rechtlichen Gleichheit angewandt werden, wird das Ergebnis ungerecht sein. Aber Gerechtigkeit erfordert, dass unterschiedliche Gesetze auf unterschiedliche Menschen angewandt werden, damit das Ergebnis gerecht ist. Kurzum, der Staat ist verpflichtet, den Armen und Ohnmächtigen durch besondere Gesetze zu helfen (“gerechtes Mittel”), ein Gedanke, der zweifellos zu den “ewigen Wahrheiten” (“aeternae veritates”) gehört und sogar auf der UNO-Seerechtskonferenz von 1982 eine Rolle derart spielte, dass extra Kapitel für die armen Entwicklungsländer mit Bestimmungen über ihre präferenzielle und bevorzugte Behandlung eingebauten worden sind.
Genau 1700 Jahre später nach Aristoteles entwickelte der Theologe, Philosoph und Kenner des umfangreichen Werks von Aristoteles, Thomas von Aquin (Aquinas), auf der Grundlage der Theorie des Stageirites seine eigene Theorie: “iustitia commutativa”, “iustitia distributiva”, und “iustitia legalis”.Er hat eigentlich die termini des Aristoteles ins Lateinische übersetzt. Die katholische Soziallehre basiert auf diese Gerechtigkeitskonzeption.
Für den Materialisten Epikur war es eine Selbstverständlichkeit, dass das Interesse die Gerechtigkeit bestimmt: “Das Interesse ist Mutter der Gerechtigkeit.” Während die stoischen Philosophen (z.B. Chrysippos, Χρύσιππος) die Gerechtigkeit ausschließlich als einen Begriff der allgemeinen Ethik betrachteten, hat der Leiter der Akademie, Karneades (Καρνεάδης), eine bis heute gültige Auffassung formuliert: “Die Gerechtigkeit verlangt, dass man jedem das gibt, was ihm zusteht”, d.h. das, was ihm entspricht oder was er verdient. Dies wurde in der europäischen Geistesgeschichte als die Meinung des römischen Juristen Ulpianus bekannt: “Iustitia est … suum cuique tribuere”. Im Allgemeinen wurde es jedoch als etwas Abscheuliches bekannt, da es von den deutschen Nationalsozialisten zur Vernichtung der Juden (“Jedem das Seine”) im Konzentrationslager Buchenwald verwendet wurde. Der bereits erwähnte chinesische Philosoph Hsün Dse hat fast dasselbe formuliert wie Chrysippοs, wobei er die Existenz verschiedener sozialer Schichten und Klassen berücksichtigte: “Allen muss gegeben werden, was ihnen zusteht”.
2. Gleichheit
Der Sophist Antiphon (Αντιφών( hat eine ganze Theorie der Gleichheit ausgearbeitet, die Konsequenz der natürlichen Gleichheit wäre dann die (juristische) Gleichheit. Er konkretisiert seine naturalistische bzw. naturrechtliche Argumentation: “Atmen wir alle durch Mund und Nase in die Luft hinaus und essen mit Hilfe der Hände? … (“Αναπνέομεν τε γάρ είς τόν air άπαντες κατά τό στόμα καί κατά τάς ρίνας καί αισθίομεν ερσίν άπαντες”).
Der Sophist Alkidámas ( Αλκιδάμας ) argumentiert in einem Pamphlet sowohl religiös als auch naturalistisch: “Gott hat alle Menschen frei gemacht; die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht” (Scholion an Aristoteles, Rhetorik I 13, 1371b 18). Die Konsequenz der natürlichen Gleichheit wäre dann die (juristische) Gleichheit.
Der Rhetor Isokrates (Ισοκράτης) geht dem Problem auf den Grund: “Während angenommen wurde, dass es zwei Gleichheiten gibt, und die eine das Gleiche an alle und die andere das Entsprechende an jeden knüpft, haben sie die nützlichere Gleichheit nicht außer acht gelassen, sondern jene Gleichheit missbilligt, die lasterhafte Menschen der gleichen Belohnungen und Ehrungen für würdig hält, und jene vorgezogen, die jeden nach seinem Verdienst ehrt und bestraft.”
Schlussfolgerungen α) Die philosophischen Vertreter der oberen Gesellschaftsschichten halten das Gesetz automatisch für gerecht. b) Nach Ansicht der idealistischen Philosophen ist die Gerechtigkeit ein Begriff der allgemeinen Ethik. c) Die Armen und Ohnmächtigen fordern Gerechtigkeit, während die Reichen und Mächtigen sie nicht zulassen. d) Es gibt nirgendwo eine absolute Gerechtigkeit. Sie ist relativ und konkret. e) Die Sozialstaaten helfen den ärmeren Bevölkerungsschichten durch die Schaffung gerechter Lebensbedingungen. Die Anwendung von “horizontalen Maßnahmen” ist gegen die schwächsten sozialen Gruppen in der Gesellschaft und stellen einen Mangel an Gerechtigkeit dar.
Literatur-Quellen
-Platon, Der Staat, Leipzig 1978
-Platons sämtliche Werke in zwei Bänden, Erster Band, Wien MCMXXV
-Αριστοτέλης, Ηθικά Νικομάχεια, Θεσσαλονίκη 2000
-Aristoteles, Nikomachische Ethik, Berlin 1969
-Griechische Atomisten hrsg von F, Jürss etalt., Leipzig 1977
-Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von W.Kranz, Band 2, Berlin 1951
-Lexikon der Antike, hrsg. von J. Irmscher, Berlin etLeipzig 1977
-R.Müller, Menschenbild und Humanismus der Antike, Leipzig 1980
-R. Müller (Hrsg.), Der Mensch als Maß der Dinge, Belin 1976
-R. Wilhelm, Chinesische Philosophie, Wiesbaden 2012
-E. Schwarz, Einführung zu Laudse: Daudedsching, Leipzig 1977
-Geng Wu, Die Staatslehre desHan Fei, Wien, New York 1978
-B. Brentjes, Zum Problem des Humanismus und Menschenbild im Orient, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1972, S. 819ff.
-P.Terz, Menschenbild und Recht in den alten Hochkulturen: Eine universalhistorische und komparative Betrachtung, ISBN: 978-620-0-27129-7, Saarbrücken 2019, 223 S.(Vollständiger Titel: Menschen- und Gesellschaftsbilder sowie Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen in den Schriftdokumenten der alten Hochkulturen, Eine komparative philosophiehistorische Untersuchung)

veröffentlicht von 2014 -20017 in Griechisch in Καθημερινή (Kathimerini) als Auseinandersetzung mit dem griechischen Theologen und Philosophen Christos Giannaras

aus meinem Buch: Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος (Panos Terz), Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Φιλοσοφία, Διεθνές Δίκαιο, Διεθνείς Σχέσεις, Πολιτολογία, Πρώτος Τόμος (Enzyklopädische und
Allgemeinbildung, populärwissenschaftlich: Philosophie, Völkerrecht,  Internationale Beziehungen, Politik, Erster Band) ), ISBN: 978-620-0-61337-0, Saarbrücken 2020, 289 Seiten, S.103 ff.

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