Interesse (Utilitarismus)

Interesse (Utilitarismus)
Orthodoxe Theologen und vor allem Kleriker der christlichen Orthodoxie (vor allem Russen und Griechen) starten abstrakt moralisierend, scharfe Angriffe gegen den Utilitarismus des Westens und vor allem der Protestanten, um die angebliche moralische “Überlegenheit” der mittelalterlichen byzantinischen Kultur, d. h. des Mystizismus und der Religiosität gegenüber der westlichen Kultur hervorzuheben (siehe in meinen Blog eine Studie über die byzantinische Kultur). Wir haben nicht die Absicht, den Westen und die Protestanten zu verteidigen, sondern uns systematisch und gründlich mit dem in der Tat immerwährenden, interessanten, aber etwas schwierigen Problem des Utilitarismus mit seinen Synonymen Interesse und Vorteil zu befassen. Der verehrte Herr Giannaras gibt uns erneut Anlass, eine zivilisierte und konstruktive Kritik zu üben. Wir werden nachweisen, dass die Inhalte dieser Begriffe tatsächlich aus dem Altgriechischen stammen. Gleichzeitig werden wir zeigen, wie wir den Wissensschatz unserer Vorfahren ohne zur Schau gestellte Anbetung und Ultranationalismus für wissenschaftliche Zwecke nutzen können. Der Westen trank und trinkt weiterhin aus der unerschöpflichen Quelle des antiken griechischen Geistes, während die modernen Griechen es vorziehen, von den Europäern und neuerdings auch von den Amerikanern zu lernen, was die antiken Philosophen gelehrt haben, anstatt ad fontes (zu den Quellen) zu gehen. Dies ist aus nationaler Sicht unwürdig. Und wenn sie die Quellen studieren, dann tun sie dies ausschließlich auf philologische oder linguistische Weise. Das heißt, seit der Zeit des bedeutenden Intellektuellen Korais (Κοραής) haben wir uns mit den antiken Hellenen vermittels des Westens beschäftigt, anstatt sie direkt und systematisch zu studieren und die notwendigen Schlüsse auch für unser heutiges Leben zu ziehen. Aber auch ein anderes, sehr unangenehmes Phänomen ist zu konstatieren, das in der Ignoranz oder, schlimmer noch, in der indirekten Ablehnung des antiken hellenischen Erbes und der Suche nach der Lösung für unsere gegenwärtigen Probleme im Mystizismus und Irrationalismus des byzantinischen Mittelalters liegt.
Die antiken hellenischen Philosophen und das Interesse
Von Anfang an war das Interesse mit dem Atomon (Individuum) verwoben. Der Redner Lysias (Lυσίας( hat dies deutlich gemacht: „Οτι ου περί πολιτείας εισίν αι προς αλλήλους διαφοραί, αλλά περί των ιδία συμφερόντων εκάστω“ (Δήμου καταλ. απολ.10 ):”"Die Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen betreffen nicht das politische System, sondern das individuelle Interesse eines jeden”. Aus dieser Konzeption ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass das Wohl des Bürgers die Grundlage der Stadt war. Die Sophisten Antiphon (Αντιφών), Carneades (Καρνεάδης) und Protagoras (Πρωταγόρας) waren konkreter, was den Nutzen für den Einzelnen anging. Doch während Antiphon in erster Linie an das Individuum dachte, richtete Protagoras seine Aufmerksamkeit auf das Interesse der gesamten Gesellschaft. Das ist in der Tat erstaunlich, beeindruckend und auch bewegend für die heutigen Griechen, denn 2300 Jahre später ist genau derselbe Unterschied zwischen J. Bentham und John Mill gemacht worden. Das “allgemeine Interesse” wurde bereits von Demokrit (Δημόκριτος)und Epikur (Επίκουρος) aufgezeigt. Aristoteles (Αριστοτέλης) nannte es “το κοινόν καλόν” (“Das Gemeinwohl”) und Thomas von Aquin (Philosoph und Theologe) hat es übernommen und “commune bonum” genannt. Die sich entwickelnden gesellschaftlichen und politischen Notwendigkeiten haben nach und nach zu einer Verbindung von Interessen- und Vertragstheorie geführt, die für Wissenschaft und Praxis von großer Bedeutung war und ist. In der Mitte des 5. und am Ende des 4. Jh. v. Chr., als sich die Demokratie des Athener Stadtstaates auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung befand, begann eine systematische Beschäftigung mit anthropologischen Fragen und insbesondere mit dem Bild des Menschen. Das Atomon, sein Selbstbewusstsein und die Gleichheit der freien Bürger waren die Voraussetzungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und des Stadtstaates. Es wurde die philosophische und praktische Frage aufgeworfen, wie die dynamischen Beziehungen zwischen den Individuen untereinander sowie zwischen den Individuen und dem Stadtstaat funktionieren. Die Sophisten Antiphon und Protagoras waren die ersten, die die welthistorische Ansicht vertraten, dass die Gesellschaft durch einen Vertrag (Vertrag, Vereinbarung) zwischen den ursprünglich voneinander isolierten Individuen entsteht. Dies war der Ausgangspunkt für die Ausarbeitung einer ganzen Gesellschaftsvertragstheorie durch den ebenfalls anthropozentrisch, d.h. nicht theozentrisch denkenden Epikur. Auch Epikur hatte als Ausgangspunkt seiner Theorie die Vorstellung, dass die Gesellschaft in erster Linie aus miteinander verbundenen Individuen besteht, die durch Vereinbarungen auf der Grundlage gegenseitiger Interessen (Nutzen, Vorteil) und der Vermeidung von Gewalt eine große Einheit, die menschliche Gesellschaft, gebildet haben. Epikur hat die Theorie des Interesses nicht nur auf die Gesellschaft, die Stadt und die Gesetze angewandt, sondern auch auf die Freundschaft angewandt: “Jede Freundschaft wird als interessenorientiert gewählt. Aber das hat seinen Ursprung im Nutzen”); die bildenden Künste (“Gute Kunst ist eine Methode, die das schafft, was für das Leben nützlich ist”) und die wissenschaftliche Arbeit des Forschers (“Mit großer Aufrichtigkeit möchte ich als Forscher allen Menschen vermitteln, was für sie nützlich ist…”). Die Theorie des Interesses ist ein integraler Bestandteil des gesamten wissenschaftlichen Gebäudes von Epikur, das auf der Glückseligkeit und insbesondere auf dem Genuss basiert. Letzteres war für seine Gegner ein Grund, ihn zu verleumden, ohne zu berücksichtigen, was er mit “Eudaimonia” (“Ευδαιμινία”)und “Hedonismus” (“`Ηδονισμός”) meinte: “Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne mit Vernunft, Anstand und Gerechtigkeit zu leben”. Tatsächlich hat Epikur möglicherweise den “geistigen Freuden” den Vorrang vor den materiellen Freuden gegeben.
Französische und englische Philosophen
Ich bitte die Leserinnen und Leser, den folgenden Text sehr aufmerksam zu lesen, denn er enthält den konzeptionellen und methodischen Schlüssel zum besseren Verständnis der theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen wichtiger Aspekte des gegenwärtigen Kulturkreises des Westens. Im 17./18. Jh. haben sich vor allem materialistische Philosophen unter anderen Vorzeichen mit dem Eudämonismus und der Frage des Utilitarismus beschäftigt. Der Franzose Holbach z.B. verwendete das Wort Nützlichkeit im Sinne des Beitrags eines jeden Menschen zum “Glück seiner Mitmenschen”, auch wenn “dies für seine eigene Eudaimonia notwendig ist”. Doch während er den Nutzen für die gesamte Gesellschaft bevorzugte, beschränkte Helvetius ihn auf den Egoismus des Einzelnen. Er hat die Vorstellung formuliert, dass das Interesse (“interet prive”) “das einzige Kriterium für das Handeln des Menschen” sei. Er gehört zu den ersten Philosophen, die das Interesse mit der Moral verbunden haben, indem er schrieb, dass moralische Meinungen Folgen der Wahrnehmungen des Interesses seien. Das Gegenteil von Helvetius hat der berühmte J.J. Rousseau vertreten (“contrat social”: “Gesellschaftsvertrag”): Das Interesse ist Teil der Natur des Menschen, aber es wäre möglich, es durch Erziehung zu einer Triebfeder für moralische Handlungen zu machen (“interet moral”, “amour de l ordre”), was die “volonte general” (allgemeiner Wille) als eine allgemeine psychologische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft hervorbringen könnte. Während die Franzosen sich vor allem mit den philosophischen und moralischen Aspekten des Interesses befasst haben, hat der Engländer Jeremy Bentham etwas Originelles getan, indem er das Interesse mit der Ökonomie verbunden hat! International bekannt wurde er als Begründer des Hedonistischen Utilitarismus (Hedonistische Nützlichkeit). Nach dem Utilitarismus -Prinzip hängt die moralische Qualität menschlicher Handlungen davon ab, ob sie das Glück aller Individuen maximieren, die in irgendeiner Weise mit ihnen in Verbindung stehen (sehe sein Hauptwerk “An Introduction to the Principles of Morals and Legislation”).
Nach seinem Konzept des “Wohls des Ganzen” hängt dies von den Interessen der Bürger ab. Im Utilitarismus wird das menschliche Handeln theoretisch in dem Sinne interpretiert, dass das Erreichen des Nutzens das treibende Motiv seines Handelns ist. Auch John Mill hat zur Weiterentwicklung des englischen Utilitarismus beigetragen (z.B. in seiner berühmten Abhandlung “Utilitarianism”) und schreibt u.a.: “I would like to reiterate that the opponents of the Utilitarian Principle seldom acknowledge it”: Die Glückseligkeit, die für den utilitaristischen Moralisten das moralische Maß ist, ist nicht die Glückseligkeit des Handelnden selbst, sondern die aller, die gemeinsam handeln.” Ihre wichtigste Botschaft ist folgende: Es gibt keinen Widerspruch zwischen individueller und allgemeiner Glückseligkeit, d.h. das einzelne Individuum denkt natürlich an seine eigenen, aber gleichzeitig an den Nutzen für die ganze Gesellschaft. Gerade dieser entscheidender Aspekt wird seitens der allgemein moralisierenden Theologen und der Kleriker der christlichen Orthodoxie nicht berücksichtigt.
Bentham und Mill haben den englischen Utilitarismus begründet, von dem eine interessante Botschaft ausgeht: „ the greatest happines of the greatest number“ (“das größte Glück der größten Zahl”). Aber gerade durch diese theoretische Positionierung wurde der Liberalismus gerechtfertigt, demzufolge die Vergrößerung des Nutzens eines Einzelnen die Vergrößerung des Nutzens der gesamten Gesellschaft bewirken kann. Insbesondere Benthams Ansicht hat immer wieder zum Credo der verschiedenen Schulen des Realismus geführt. Bentham hätte sich nicht vorstellen können, dass seine Theorie unter völlig anderen Umständen (Globalisierung) zu dem teuflischen Neoliberalismus und den monströsen “Hedgefonds” verzerrt wurde, die die Wirtschaft vor allem der schwachen Länder zerstört haben. Es wäre jedoch falsch und unfair, daraus zu schließen, wie Herr Giannaras es tut, dass der gesamte Westen ausschließlich utilitaristisch denkt und keine moralischen Grundsätze hätte, und dass die orthodoxen Bevölkerungen der armen Länder eine “moralische Überlegenheit” besäßen.
Der vorliegende Text ist eine sehr kurze Zusammenfassung des folgenden Aufsatzes, der dem genialen Epikur gewidmet ist: Panos Terz, Interessentheorie. Eine Studie im Koordinatensystem von Philosophie, Epistemologie und Völkerrechtsphilosophie, In honorem philosophi Graeci, praestabilis Epicuri, in : Papel Politico, Pontificia Universidad Javeriana, Facultad de Sciencias Politicas y Relaciones Internacionales, 1/14/2009, pp. 223-272.
veröffentlicht von 2014 bis 2017 oft in Καθημερινή (Kathimerini) in Auseinandersetzung mit dem griechischen Theologen und Philosophen Christos Giannaras
aus meinem Buch: Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος (Panos Terz), Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Φιλοσοφία, Διεθνές Δίκαιο, Διεθνείς Σχέσεις, Πολιτολογία, Πρώτος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung, populärwissenschaftlich: Philosophie, Völkerrecht,

Internationale Beziehungen, Politik, Erster Band) ), ISBN:
978-620-0-61337-0, Saarbrücken 2020, 289 Seiten, S.107ff.

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