Europa im Spannungsfeld von Orient und Okzident

Europa im Spannungsfeld von Orient und Okzident
Versuch eines systematischen Herangehens
Das Thema weist verschiedene Dimensionen auf, die Gegenstand der Untersuchung  sind.
1.Mythologische Dimension
Nach der griechischen mythologie war Europa Tochter des Agenor, Königs von Phönizien und der Telephasa. Ihre Schönheit veranlasste den Göttervater Zeus, sie in Gestalt eines Stieres nach Kreta zu entführen. Dort gebar sie ihm die drei Söhne Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Ihr Vater Agenor schickte seinen Sohn Kadmos in den Westen, um dort nach Europa zu suchen. Hier wird mythologisch die Besiedlung von Hellas durch östliche Völker umschrieben, die den Vorfahren der Hellenen Kultur und Techniken beigebracht haben.
2. Linguistische Dimension
Das Wort Europa ist nicht griechisch. Die großen Seefahrer Phönizier waren das erste Volk, das den Begriff Vrp (Vrep ) verwendet haben, den die Griechen als Europe wiedergegeben haben, der als Westen übersetzt wird. Gemeint waren alle Länder westlich von Zypern. In der phönizischen Sprache (westsemitisch, später die offizielle Sprache des mächtigen Karthago) bedeutet brp dunkel oder westlich, und in historischer Zeit nannten die Hellenen, dieser Tradition folgend, die Region des westlichen Mittelmeers Hesperia (Westen oder Abend), daher auch Hesperios (der Westen). In der griechischen Mythologie waren die Hesperiden Töchter des Atlas, daher der Name “Atlasgebirge” in Nordwestafrika (Marokko, Algerien).
In Aischylos’ “Perser” wird das Land, in dem die Perser besiegt wurden, als das Land bezeichnet, “in dem die Sonne untergeht” (Westen, Abend), woraus sich der terminus scientificus “Abendland” ableitet. Lange vor den Griechen bezeichneten die Ägypter alle Gebiete westlich von Ägypten und Libyen als Westen oder Dunkelheit. Das Wort Europa wird in Griechenland selbst in offiziellen Wörterbüchern fälschlicherweise als “breites Gesicht” gedeutet.
Die praktischen Römer gaben den westlichen Regionen des Imperium Romanum den Namen Occidens (Westen) und den östlichen Regionen den Namen Oriens (Osten), zu dem die Cyrenaica (Libyen), Ägypten, Syrien-Palästina und Asia minor (damals ins Griechische als Μικρά Ασία (Klein-Asien) übersetzt ) gehörten. Vor etwa zweitausend Jahren wurde das Römische Reich in das Westliche (Imperium Romanum Occidentalis) und in das Oströmische Reich (Imperium Romanum Orientalis ) geteilt.
3. Prehistorische Dimension
Bereits vor 25 000 Jahren (weibliche Idole vielleicht von Gottheiten) und eine Flöte, vor 18 Tausend Jahren (Malereien) wurden in Europa in Altsteinzeit (700000-8000 v. Chr.) einige kulturelle Leistungen erzielt. Mit der Jungsteinzeit (5.500-2.500 v. Chr.) fand die “Landwirtschaftliche Revolution” statt und es begann die systematische Zivilisierung der Europäer begann (Siedlungen, Getreideanbau, Arbeitsteilung, Töpferei (5.000 v. Chr.) und eine Sternwarte (Stonehenge, 3.000 v. Chr.). Die ersten Bauern kamen aus dem Gebiet zwischen Ostkleinasien, Syrien und dem Irak. In Mittel- und Nordeuropa gab es bereits zwischen 5.500 und 4.500 v. Chr. eine landwirtschaftliche Zivilisation.
4. Historische Dimension
Der Nahe Osten war Europa in den Produktivkräfte voraus (Erfindung der Landwirtschaft bereits 9.000 Jahre v. Chr., Gründung von Staaten 3.500 Jahre v. Chr., der Gesetzgebung (erste Codices, wie z.B. der Codex von Urukagina bereits 2.240 Jahre v. Chr.), erste Alphabete etwa 3.000 Jahre v. Chr. (das griechische Alphabet wurde im 9. Jahrhundert von den Phöniziern aus Ugarit übernommen und umgeformt. Ab dem 6. Jh. v. Chr. begannen die Hellenen damit, Medizin, Gesetzgebungstechniken, Verwaltungssysteme, Architektur und Geometrie (Ägypten), Mathematik und Astronomie (Babylonien) zu übernehmen.

In Europa, diesmal im westlichen, vollzogen sich Ereignisse von historischer Bedeutung, wie im 15. Jh. die Renaissanse des antiken Geistes in Italien und im 18.Jh. die Aufklärung zuerst in England und danach in Frankreich, wo 1789 die bürgerliche Revolution stattfand, deren Errungenschaften wie der Bürgerliche Staat, die konkreten Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten  internationale Ausstrahlung erlangten. Zu erwähnen ist ferner die Industrierevolution im 18. Jh. in England, die dem Wesen nach die Zweite große Revolution der Produktivkräfte in der Menschheitsgeschichte darstellt. Hierdurch konnte Europa, international betrachtet, eine führende Rolle spielen. Es ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass europäische Staaten einerseits fast die ganze Welt kolonisiert und im wahrsten Sinne des Wortes ausgeplündert haben. Andererseits jedoch brachten sie zu ihnen Errungenschaften der Industrierevolution (z.B. England in Indien).

Diese welthistorischen Ereignisse erreichten aber die Balkanvölker sowie die Russen nicht oder unvollkommen und sehr verspätet. Diese Völker haben weder die Rennaisance, noch die Aufklärung erlebt. Das ist der Hauptgrund dafür, dass z.B. Russland eine ganze Etappe der europäischen Entwicklung übersprungen hat und vom Feudalabsolutimus zum “Kommunismus“ schritt. So konnte sich kein Bürgertum entwickeln, worauf sich ein moderner Staat stützt, und Errungenschaften Europas, wie z.B. die Demokratie, die Gewaltenteilung, die Individual-Menschenrechte und die bürgrelichen Freiheiten auch dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus“ ein Buch mit sieben Siegeln sind. Es verwundert daher nicht, dass die Menschen in diesen Ländern weder ein entwickeltes Sozialbewusstsein, noch ein europäisches Staatsbewusstsein, noch ein modernes Rechtsbewusstsein besitzen. Möglicherweise als Kompensation dafür verfügen sie aber über ein überentwickeltes Nationalbewusstsein, das allerdings von Populisten reichlich instrumentalisiert wird.
5. Räumliche Dimension (Welche Völker gehören kulturell zu Europa?)
α) Europa umfasst geografisch alle Länder zwischen Portugal und dem europäischen Russland und zwischen Skandinavien und Griechenland.
b) Europa umfasst kulturell (West-, Mittel-, Nordeuropa, zum Teil die Balkanvölker, Griechenland wegen seiner Geschichte ohne Einschränkung), und Osteuropa (Russland, Weißrussland, Ukraine und Moldawien nur zum Teil).
c) Bereits vor 26 Jahren habe ich in meinen Universitätsvorlesungen die Auffassung von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten vertreten. Dieses Konzept wurde damals als unfair und diskriminierend gegenüber den Ländern des europäischen Südens angesehen.
6. Ethnopsychologische Dimension (Balkanvölker und der Westen (Europa)
Es wird die Differenzierungsmethode angewandt, die eine der Grundregeln der Allgemeinen Methodologie der wissenschaftlichen Forschung ist:
a) Die orthodoxe Kirche und ihre Theologen lehnen den Westen wegen seines Atom- bzw. Individualzentrismus und seiner “Unmoral” ab. Hier stehen die Russen und die Griechen an der Spitze.
b) Die Kommunisten und einige Vertreter der radikalen Linken sind von Gefühlen der Ablehnung, teilweise sogar des Hasses, gegen den kapitalistischen (“imperialistischen”) Westen besessen. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine besondere Ausprägung des “Klassenkampfes”.
c) Der Durchschnitts Balkanmensch bewundert den Westen wegen seines hohen Lebensstandards und seiner ebenso hoch entwickelten Kultur. Auf dem Balkan sind z.B. seit dem 19. Jahrhundert die folgenden Ausdrücke sehr verbreitet: “Wir und Europa” und mit Bewunderung man hat “in Europa studiert”. Damit wird die Bewunderung für die wissenschaftliche Überlegenheit der Europäer (historisch: Franzosen, Deutsche, Engländer) zum Ausdruck gebracht.
d) Kulturelle Minderwertigkeitskomplexe fast aller Balkanvölker gegenüber “Europa” werden ebenfalls festgestellt.
e) Weitere Beispiele für die Beziehungen zwischen europäischen Völkern werden ebenso angeführt: Die meisten Russen bewundern die Deutschen und lehnen sie gleichzeitig ab. Die meisten Polen bewundern und fürchten gleichzeitig die Deutschen. Die meisten Tschechen bewundern und  gleichzeitig beneiden Deutschen.
7. Säulen des abendländischen Kulturkreises

Nach dem methodischen Prinzip des consensus generalis doctorum et professorum (Allgemeine Übereinstimmung der Doktoren und Professoren)
das in angesehenen wissenschaftlichen Wörterbüchern und Universitätslehrbüchern formuliert wird, gehören zu den Säulen des abendländischen  Kulturkreises (Westen) vor allem die folgenden Säulen:
α) Die bekannte antike griechische Zivilisation (Ionien, Athen, Rhodos, Unteritalien, Sizilien, Alexandria).Europa hat von Hellas die folgenden zivilisatorischen und wissenschaftlichen Errungenschaften übernommen: Individuum, Bürger, Demokratie, Staat, Staatsbewusstsein, Rechtsbewusstsein, Freiheitsgedanke, Philosophie, Theorie, Methode, Logik, Geschichte, Rhetorik, Literatur, Poetik, Ästhetik, Theater, Epos, Drama, Satire, Komödie, Medizin, Mathematik, Geometrie, Architektur, Mechanik und Botanik, um die wichtigsten zu nennen. Die Römer und später die Italiener gaben Europa die hellenische Zivilisation und Wissenschaft weiter sowie ihr Recht (jus romanum), den großflächigen und kontinentalen Straßenbau, und ihre Groß-Architektur, ihren Imperialgedanken (Imperium romanum)  und ihre Verwaltungskunst,
b) das Alte und das Neue Testament als die Grundlage des Christentums) und
c) die europäische Aufklärung (England, Frankreich, Deutschland (in der Philosophie) und die USA), die durch die Befreiung des Menschen aus der Dunkelheit des Mittelalters und auf der Grundlage des Jus rationis (Rechte Vernunft ) den Lauf der Weltgeschichte verändert und die Grundlagen für die allgemeine Überlegenheit des westlichen Kulturkreises vor allem in den Wissenschaften und in den Hochtechnologien geschaffen hat.

Literatur

-H. Gärtner, Kleines Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1989.
-Brockhaus, Weltgeschichte, Band 1 (Anfänge der Menschheit und frühe Hochkulturen), Band 2 (Antike Welten) und Band 4 (Wege in die Moderne), Leipzig, Mannheim 1997.
-C. Andresen, H. Erbse, O.Gigon et alt., (Hrsg.),Lexikon der Alten Welt, drei Bände, Dsseldorf 200.
-J. Irmscher (Hrsg.), Lexikon der Antike, Leipzig 1987.
-B. Hrouda(edit); DerAlte Orient, Geschichte und Kultur des alten Vorderasien, München2003.
-H.Freydank, W.F.Reinicke, M. Schetelich, Th.Thilo, Der Alte Orient in Stichworten, Leipzig 1978.
Veröffentlicht zwischen 2012 und2018 in den griechischen Zeitungen Καθημερινή (Kathimerini), Το Βήμα (To Wima), Τα Νέα (Ta Nea), Πρώτο Θέμα (Proto Thema) und iefimerida in Auseinandersetzung mit graecozentristisch gesinnten griechischen Ultranationalisten
aus meinem Buch: Panos Terz, Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος: Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Θρησκεία, Ιστορία, Εθνολογία, Πολιτισμός, Γλωσσολoγία, Δεύτερος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung: Religion, Geschichte, Ethnologie, Kultur, Linguistik, Zweiter Band) , ISBN: 978-620-0-61339-4, Saarbrücken 2020, S.101 ff.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>