Nächstenliebe
Die Nächstenliebe wird gemeinhin als ein Prinzip der christlichen Moral bezeichnet, verbunden mit dem Glauben, dass nur die christliche Religion dieses wirklich erhabenste moralische Prinzip kennt. Mit diesem Kommentar soll gezeigt werden, dass dieses ethische Prinzip auch außerhalb des christlichen Universums bekannt ist. Der Autor stützt sich inhaltlich und quellenmäßig vorwiegend auf sein Buch Panos Terz, Menschenbild und Recht in den alten Hochkulturen, Eine universalhistorische und vergleichende Betrachtung, ISBN: 978-620-0-27129-7, Saarbrücken 2019 ( Kap. 2.2.2., S.51-57). Die Philosophen waren die ersten, die in besonderer Weise die Liebe zwischen den Menschen und vor allem zwischen den Unterdrückten und Armen, d.h. die Liebe zwischen den Angehörigen der einfachen Gesellschaftsschichten, gepredigt haben, obwohl der Ausgangspunkt der Menschenliebe die Tatsache war, dass alle Menschen Brüder und Schwestern seien. Aus diesem Grund muß die Nächstenliebe ohne irgendwelche Gegenleistung ausgeübt werden. Einer der wichtigsten Vertreter der “Dritten Generation”, der “römischen” Stoiker, der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca, hat den Begriff der Liebe in seinen “Briefen zur Sittenlehre an Lucilius” mit seinem berühmten Zitat “Homo res sacra homini” (“Der Mensch ist für den Menschen ein heiliges Ding”) entwickelt. Dies lässt die folgenden unterschiedlichen Interpretationen zu: a) Der Mensch als Bruder des Menschen ist etwas Heiliges und daher unantastbar. b) Der Mensch ist in seiner Eigenschaft als Schöpfung des Göttlichen heilig und daher verehrungswürdig. c) Der Mensch ist auch etwas Göttliches (pantheistische Interpretation). d) Die Maxime gilt für jeden Menschen unabhängig von seinem sozialen Status, z.B. auch für einen Sklaven, und unabhängig von seiner ethnischen Herkunft. Senecas Auffassung ist also vom Geist des allgemeinen und universellen Humanismus durchdrungen. Zweifelsohne wird es den eurozentristisch denkenden Lesern sehr überraschen, dass hier das methodologische Prinzip der Universalität angewandt wird. Dies erfolgte im Prinzip bereits in den 1970er -Jahren. Die alten chinesischen Philosophen waren die ersten, die sich systematisch mit der Liebe zum Mitmenschen natürlich auf ihre eigene Art und Weise. beschäftigt haben. Unabhängig von der philosophischen Schule, wurde das grundlegende moralische Prinzip des Shen (Djenai ) nach und nach in Begriffen wie Humanismus, universelle Liebe, Menschenliebe und Liebe zu Anderen formuliert.
Es ist genau dieses oberste Prinzip, das der größte chinesische Philosoph und Theoretiker Konfuzius in seinem Werk “Lun Yü” als moralische Grundlage der Familie und des Staates anerkannt hat: Wer “brüderliche Liebe” praktiziert, leistet keinen Widerstand gegen die Oberen in der Gesellschaft (sic). Indem Konfuzius (6./5. Jh. v. Chr.) die Liebe in ein ideologisches und politisches Werkzeug verwandelte, leistete er einen großen Beitrag zur Beendigung der Klassenkämpfe und zur Herstellung der Harmonie (Stabilität) im riesigen chinesischen Reich. Konfuzius’ philosophischer Rivale Mo ti (Mo-Tzu, Motius, 5. Jh. v. Chr.) stellte dem konfuzianischen Konzept die “allgemeine Liebe”, die “vereinigende Liebe”, mit folgendem moralischem Inhalt entgegen: α) Alle Menschen, unabhängig von ihrem sozialen Status, sollten sich gegenseitig helfen. Der Himmel (Wort für göttlich) ist das oberste Prinzip und das höchste Wesen, das alle Menschen mit der gleichen Liebe umarmt. Nach dem Willen des Himmels müssen sich die Menschen gegenseitig lieben. c) Hierdurch wird eine Überwindung der sozialen Widersprüche erreicht (vgl. E. Steinfeld, Die sozialen Lehren der altchinesischen Philosophen Mo-Tzu, Meng-Tzu und Hsün-Tzu, Berlin 1971, S. 162). Diese philosophische Sichtweise ist die Grundlage der materialistischen Weltanschauung des Mohismus, der Ideologie der unteren sozialen Schichten in den Städten. Der bekannteste Philosoph dieser Konzeption Lao-Tze (Laozi, 5./4. Jh. v. Chr.) wollte die “allgemeine Liebe” nur unter den Angehörigen des unterdrückten und gequälten Volkes begrenzen (so etwas wie proletarische Solidarität). Er war der Verfechter der Interessen des arbeitenden Volkes, der einfachen und armen Leute, und er hasste klassenbedingt die Ausbeuter . Lao-Tze war jedoch ein Fatalist (siehe sein berühmtes Werk und philosophisches Gedicht Daudedshing: Das Buch von Dau und De, Leipzig 1973).
Ein anderer Philosoph, der Pragmatiker Meng-Tzu, gab dem Kaiser einen interessanten Rat: Ohne Güte kann man ein Königtum , aber kein großes Reich führen. Wer gut ist, liebt das Volk (Buch des Meng-Tzu, IV, II, 28). Der Zweck der Liebe zwischen den Menschen war es, die Lebensbedingungen der arbeitenden Massen, insbesondere der Bauern, zu verbessern. Das ist wirklich Humanismus par excellence.
Der große chinesische Demokrat und Patriot Sun Yat-sen ( Anfang des 20. Jahrhunderts) hat zu Recht seinen Stolz auf den chinesischen Humanismus zum Ausdruck gebracht, indem er die Rolle der Liebe wie folgt hervorhob: Sowohl der Humanismus als auch die Liebe sind tief in den moralischen Werten des chinesischen Volkes verwurzelt. “In unserer politischen Philosophie gab es zwei Prinzipien: “Das Volk wie seine Kinder zu lieben” und “Die Menschen zu lieben und alle Wesen menschlich zu behandeln”. Dies beweist, wie weitreichend die Bedeutung des Begriffs der Liebe in unserer klassischen Philosophie war” (Siehe G.K. Kindermann (Hrsg.), Sun Yat-sen, Drei Grundlehren vom Volk, Dokumente, Freiburg/Br. 1963, S. 93). Schlussfolgerungen α) Die “Nächstenliebe” war im konfuzianischen Kulturkreis bekannt, aber nicht in allen anderen Religionen, jedoch nur die christliche Religion hat sie als oberstes Prinzip proklamiert. Der Buddhismus kennt eher den Begriff der Barmherzigkeit als das höchste moralische Prinzip. b) Das bedeutet aber nicht, dass es im Christentum im Allgemeinen keine Probleme bei der Anwendung der “Nächstenliebe” gäbe. c) Es sei dennoch daran erinnert, dass die Christianisierung der kulturell rückständigen vielen alten Germanenstämme und vor allem in concreto die “Nächstenliebe” deren meist halb zivilisiertes und hochaggressives Grundverhalten stark verändert hat. d) Hier ist en passant bewiesen worden, dass es fast zur gleichen Zeit in Griechenland und China bemerkenswerte Philosophen gab, aber den chinesischen Philosophen nicht gelang, eine überlegene Philosophie, Theorie und Methodologie zu schaffen. Im Vergleich zu dieser ontologischen Liebe ist die “väterliche” Liebe Gottes eine imaginäre Liebe des imaginären Vaters jüdischen Ursprungs, im Grunde eine menschliche Erfindung, die christliche Theologen zu einem “ontologischen” Phänomen gemacht haben, als Zeichen des orientalischen Patriarchats gegenüber seinen “Kindern”, d.h. für Menschen ohne Selbstvertrauen und ohne wissenschaftliche Kenntnisse. Und die “Liebe” zum Vatergott gehört zur Phantasiewelt der transzendentalen Mystik, die dem Wesen nach auf der platonischen Mystik beruht, aber man hat sich nicht die Mühe gemacht, die altägyptischen Quellen der Hermetik (Hermes Trismegistus) zu studieren, die Platon in Ägypten gelernt hat und die später auch von den “Heiligen Vätern” des Christentums genutzt wurden.
In der Religionsgeschichte werden vor allem drei Religionen genannt, die durchweg mystisch sind, nämlich die altägyptische, der Buddhismus und der Hinduismus ( vgl. I. Shaw und P. Nicholson, Lexikon des alten Ägypten, Stuttgart 2010 (Orig. Dictionary of Ancien Egypt, London 1995); F. Ebeling, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, Geschichte des Hermetismus, München 2009; K.Mylius (Hrsg.), Altindische Poesie und Prosa, Vedische Hymnen, Legenden, Zauberlieder, philosophische und rituelle Lehren, Leipzig 1978; H. Mehlig (Hrsg. und Übersetzer), Weisheit des alten Indien, Band 1: Vorbuddhistische und nichtbuddhistische Texte, Band :Buddhistische Texte, Leipzig und Weimar 1987 (1200 Seiten).
veröffentlichτ in der griechischen Zeitung Καθημερινή (Kathimerini) im März 2020 in Auseinandersetzung mit griechischen Christianozentristen
aus meinem Buch: Panos Terz, Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος: Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Θρησκεία, Ιστορία, Εθνολογία, Πολιτισμός, Γλωσσολoγία, Δεύτερος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung: Religion, Geschichte, Ethnologie, Kultur, Linguistik, Zweiter Band) , ISBN: 978-620-0-61339-4, Saarbrücken 2020, S.232 ff.