Werte und Meritokratie

Werte und Meritokratie, Meritokratie, Eine systematische Annäherung an das Thema
Das Konzept der Meritokratie in Verbindung mit Werten weist als komplexes Phänomen vor allem die folgenden Dimensionen auf: sprachliche, philosophische, historische, religiöse, ethnologische und politische.
1. Linguistische (etymologische und semantische Dimension)
Der Begriff der Meritokratie in der griechischen Sprache ist als Produkt der englischen Kultur lediglich eine Übersetzung des englischen Wortes meritocracy, das sich aus dem lateinischen (meritum) und dem griechischen Wort -kratia zusammensetzt (vgl. Handwörterbuch Englisch/ Deutsch, hrsg. von A. Neubert und E. Gröger, Leipzig, 1988, S.492). Meritum (vom Verb merere, mereo) bedeutet Leistung oder auch Verdienst und beschäftigte bereits Cicero. Aus einer Leistung erwächst die Forderung nach Anerkennung und Ehre durch die Gesellschaft (vgl. K. E. Georges, Handwörterbuch, Lateinisch-Deutsch, Leipzig 1890, S. 1574). Die wesentliche Bedeutung der Meritokratie liegt in der Macht der Tüchtigsten im Sinne der verdienstvollsten Menschen und sozialen Gruppen mit der besten Ausbildung und den größten Leistungen für die gesamte Gesellschaft (vgl. Duden, Das große Fremdwörterbuch, Mannheim, Leipzig u.a., S. 85), d.h. das höchste Kriterium für den verdienten Menschen ist seine spezifische Leistung. Normalerweise sollte die Studie an dieser Stelle abgeschlossen werden, aber eine Betrachtung des Verdienstes ist meines Erachtens notwendig, um besser zu verstehen, warum der Begriff der Meritokratie in England geprägt worden ist, während er in den linguistischen Wörterbüchern der neulateinischen (romanischen) Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch), d.h. des europäischen Südens, auch heute noch expressis verbis nicht erwähnt wird.
2.Philosophische Dimension
Wert (value, valeur, valor, valore) ist ein besonderer Aspekt der Beziehung zwischen dem Subjekt (Mensch) in seiner Eigenschaft als soziales Wesen und dem Objekt (Natur, Gesellschaft), in dem die Bedeutung des Objekts für das Leben des Menschen insgesamt und insbesondere für sein materielles und geistiges Leben deutlich wird. Auf diese Weise werden Ideale bzw. Prinzipien und Regeln geschaffen, die für die Grundordnung des menschlichen Verhaltens eine entscheidende Rolle spielen. Im Großen und Ganzen lassen sich die folgenden Wertkategorien unterscheiden: moralische, soziale, politische, nationale, religiöse, kulturelle und ästhetische Werte.
3. Historische Dimension
Jedes soziale System hatte seine eigenen Werte, und darüber hinaus unterschieden sich die Werte zwischen den sozialen Klassen und Schichten innerhalb desselben Systems weiter. Dies lässt sich an den Auffassungen führender Philosophen in fortgeschrittenen Gesellschaften wie der athenischen ablesen. Während z.B. Platon als Vertreter der Sklavenhalterklasse sehr idealistisch an allgemeinen Werten “an sich” interessiert war, war der Materialist und Demokrat Demokrit konkreter, während die zynischen Philosophen als Vertreter des antiken “Proletariats” sich vor allem mit den praktischen und materiellen Bedürfnissen der ärmeren Gesellschaftsschichten beschäftigten. Sie betrachteten Arbeit als den höchsten Wert! Die aufstrebende Bourgeoisie hat nahezu universelle Werte proklamiert, z. B. Liberte, Egalite, Fraternite (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), aber in Wirklichkeit war für sie das Eigentum das Höchste (“sacree”: “heilige”) soziale und politische Wert, während die Proletarier 100 Jahre später durch die “Commune de Paris” (“Pariser Kommune”) vergeblich versuchten, ihren eigenen höchsten Wert, die soziale Gerechtigkeit, zu verwirklichen, die von der “Großen Sozialistischen Oktoberrevolution” 1917 angestrebt wurde, aber schließlich verschwand das kommunistische sozio-politische System und mit ihm seine utopischen Werte und sein Voluntarismus für immer. Die bürgerliche Revolution in Frankreich (1789) hat den citoyen (Bürger) geformt, der von sich aus den Zusammenhang seiner Rechte und Pflichten erkennt und daher ein soziales, staatliches und rechtliches Bewusstsein besitzt. Auch das Unternehmertum ist ein Produkt der bürgerlichen Revolution. In den Balkanländern hat es solche Entwicklungen jedoch nicht gegeben, was enorme negative Auswirkungen hat.
4. Religiöse Dimension
Ausnahmslos alle Weltreligionen haben seit jeher wichtige Werte verkündet, die sich positiv auf den Menschen auswirken. Die orthodoxe christliche Religion zum Beispiel lehrt so entscheidende Werte wie Nächstenliebe (“Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”), Solidarität und Mitgefühl. Die Realität war und ist allerdings ganz anders, zum Teil sogar konträr. Der Protestantismus als praktische christliche Religion des gesunden Menschenverstandes und ohne Sentimentalität und Mystik hat auch etwas von größter Wichtigkeit etabliert, nämlich die Liebe zur Arbeit (Fleiß) als moralischen Wert von höchstem Rang eines jeden Gläubigen: Luther: Ein gläubiger Christ hat die heilige Pflicht, fleißig zu sein, oder ein guter Christ darf nicht faul sein. Dies ist zweifellos von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn sie wurde von fast halb Europa, Nordamerika und Australien angenommen und praktiziert und hat Eingang in das politische Leben, die Literatur und die europäische Philosophie gefunden. Um ein paar Beispiele zu nennen: Deutscher idealistischer Philosoph J.G. Fichte (18./19. Jahrhundert): Arbeit ist “Selbstverwirklichung” des Menschen. Karl Marx: “Die Arbeit ist die Sonne, um die sich alles, Mensch und Gesellschaft, dreht”. Aber er hat nie in seinem Beruf gearbeitet! August Bebel: “Die Strahlen der Sonne lassen die Früchte unserer Arbeit reifen”. Der evangelische Dichter Georg Maurer: Arbeit ist die “Selbstbegegnung” des Menschen. Es ist kein Zufall, dass der größte Soziologe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Max Weber, die Entstehung des Kapitalismus indirekt mit der protestantischen Arbeitsethik in Verbindung gebracht hat (z. B. in seinem international bekannten Buch “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus”). Calvinus (16. Jahrhundert) fügte die folgenden Gedanken hinzu, die einen bedeutenden Einfluss auf den Handelskapitalismus der Niederlande und später auf den Industriekapitalismus (Industrielle Revolution) Englands hatten: α) Es ist möglich, das Reich Gottes auf der Erde zu errichten. b) Auf jeden Fall werden nur die Fleißigen in den Himmel kommen, und zwar vor allem diejenigen, die Leistungen erbringen und vor allem Gewinn erzielen. Die Erzielung von Gewinn gilt für jeden (calvinistischen) Protestanten als höchster Wert und Grundsatz. Schon die alten Römer sagten: “Salve lucrum”: “Es lebe der Gewinn”. Solche Gläubigen stehen bereits an der Schwelle zum Himmel. Das heißt, dass alle faulen und erfolglosen Gläubigen in die Hölle kommen werden. Zwei weitere Religionen haben ebenfalls den Fleiß als einen höheren religiösen Wert anerkannt, nämlich der Konfuzianismus und die Sikhs in Nordindien.
5. Ethnologische Dimension
Hier richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Mentalität einiger Völker, die sich in einem langen Prozess entwickelt hat (siehe in meinem Blog die Studie “Deutsche und Griechen, Mentalität, Eine komparative Studie”). Klima, Lebensbedingungen, Tradition, Religion usw. haben zur Bildung der Mentalität beigetragen. Es ist natürlich nicht notwendig, hier alle entscheidenden Merkmale zu nennen, sondern nur diejenigen, die für unser Thema unmittelbar relevant sind. Zwei Grundzüge des modernen Griechen sind der Lebensgenuss im Sinne des Eudaimonismus und Hedonismus, der in der Zeit nach der Unabhängigkeit monströse Formen und Dimensionen angenommen hat, und das Prinzip der geringen Anstrengung, ein diplomatischer Ausdruck für Faulheit. Beides ist das genaue Gegenteil der oben genannten protestantischen Grundsätze. Die anderen Völker Südeuropas haben im Wesentlichen ähnliche Lebensvorstellungen. Es ist sicher kein Zufall, dass in unseren Sprachen die Ausdrücke “Liebe zur Arbeit” und “Leistungsprinzip” fehlen, die die Grundlage der Leistungsgesellschaft bilden. Im Allgemeinen werden auch vage moralische Werte genannt, wie z. B. geistige Vitalität, Fröhlichkeit, Selbstvertrauen, Mut und Tapferkeit (siehe Benselers Wörterbuch Griechisch-Deutsch, Leipzig 1981, S.78). In den protestantischen Ländern werden die beiden Grundprinzipien des Protestantismus auch heute noch gelebt, ebenso wie andere Werte wie Gesetzestreue, Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und der Vorrang der Interessen des Ganzen vor den Interessen des Einzelnen (Gemeinwohl). Der Konfuzianismus betont unter anderem besonders Fleiß, Disziplin und Wettbewerbsfähigkeit als treibende Kräfte für den Erfolg in der Gesellschaft. Das heißt, die wirtschaftlichen und sonstigen Erfolge von China, Japan, Südkorea, Taiwan und inzwischen auch Vietnam, also in den Ländern mit konfuzianischer Tradition haben starke ethnologische, religiöse und traditionelle Grundlagen.
6. Ethnische Dimension
Seit dem 19. Jahrhundert betrachten wir den Patriotismus (Philopatria), der auf einem gesunden Nationalbewusstsein beruht, als einen hohen Wert, weil er eng mit der Existenz der Nation verwoben ist. Aber aus der Philopatria leiten sich Verpflichtungen gegenüber dem Vaterland als Ganzes ab, während der verbale und billige Patriotismus der Mehrheit der Griechen etwas Verachtenswertes ist (siehe in meinem Blog den Artikel “Patriotismus, Philopatria”). Der echte Patriort erkennt das Wechselverhältnis von Rechten und Pflichten, was jedoch den meisten Griechen ein Buch mit sieben Siegeln ist
7.Politische Dimension
Was die Werte in Griechenland betrifft, so herrschten dort fast normale Verhältnisse. Doch Anfang der 1980er- ahre begann ein allmählicher Verfall und eine Zerstörung der traditionellen Werte auf allen Ebenen. Was geschehen ist, hat die Dimension eines großen moralischen, nationalen und sozialen Verbrechens angenommen, denn es ist noch schlimmer als die wirtschaftliche Katastrophe. Es stellt sich die Frage, mit welchen Politikern und mit welchen Menschen die Erneuerung Griechenlands auf neuen gesunden Grundlagen erreicht werden kann, wenn die größten Werte fehlen? Auf der Grundlage des “Gesellschaftsvertrags” a la grec ist das griechische Volk negativ beeinflusst worden (siehe in meinem Blog den Artikel “Gesellschaftsvertrag des gegenseitigen Korrumpierens”). Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen, aber der moralische Niedergang ist so groß, dass die Politiker der alten Parteien ohne Scham aus kleinlichen Parteiinteressen die Fehler der Vergangenheit wiederholen, indem sie 2012einen völlig ungeeigneten Politiker alten Stils in die Weltbank schickten, der weder Dynamik, noch Fähigkeiten, noch Durchhaltevermögen, noch Intellektualität ausstrahlt, obwohl er zeitweise Minister der PASOK war. Vor einigen Wochen hat die Neue Demokratie ähnliche Fehler begangen, indem sie inkompetente Rentner in wichtige Positionen berufen hat, natürlich mit fetten Gehältern. Diese Phänomene sind für die im Ausland lebenden Griechen, die in leistungsorientierten Gesellschaften leben, unverständlich, unvorstellbar, widerlich und beschämend.
Es wird sicherlich neue Politiker oder Technokraten geben, die weitaus bessere Aussichten und Möglichkeiten für eine solch herausragende Position mit entsprechendem Gehalt haben. Was geschehen ist, ist eine Hybris im Sinne der antiken griechischen Tragödien, sodass es nicht lange dauern wird, bis die verantwortlichen Politiker zur Rechenschaft gezogen werden.
Schlussfolgerungen
α) In der Geschichte, der Tradition und der Gesellschaft Griechenlands fehlen seit 200 Jahren die notwendigen Voraussetzungen für eine wirkliche, d.h. nicht nur verbale Meritokratie. Noch schlimmer: Es gibt keine meritokratische, sondern eine faulokratische, kleptokratische, teilweise sogar pseudomeritokratische politische Tradition. Als die britische Regierung in den 1830er Jahren Admiral Gordon fragte, was er von griechischen Politikern halte, die ein Darlehen von England erhalten wollten, gab er die folgende hochinteressante und vielsagende Antwort: Mit Ausnahme des Ministerpräsidenten Zaimis, sind alle anderen Lügner und Diebe. Das Schicksal des Darlehens hat seine Einschätzung bestätigt.
b) Die Positionierung im Namen der Regierung von Mr. Papoutsis in der Weltbank und die Ernennung nutzloser ehemaliger Politiker in wichtige Positionen ist nach modernen griechischen Maßstäben (Zerstörung der Werte) normal,aber sie steht im Widerspruch zu den Werten des fortgeschrittenen Europas (siehe in meinem Blog den Artikel “Europa, Nord-Süd, Geschichte, Vergleich”). c) Auf diese Weise wird bekräftigt, dass Griechenland kulturell nicht zu dem entwickelten Europa, sondern auf dem ewig rückständigen Balkan und teilweise sogar zum Nahen Osten gehört, wo es weder das Individuum noch den bewussten Bürger (citoyen) gibt, daher gedeihen Bürokratie, Egoismus, Familienherrschaft, Korruption, Anarchokratie und Faulokratie, teilweise sogar Kleptokratie (siehe in meinem Blog die Artikel “Korruption, Südeuropa” und “Griechenland, Ost, West”., und “Junger Grieche, Balkan-Ostländer”). Bemerkung: Was ich über Griechenland schreibe, gilt für alle Balkanländer.
veröffentlicht von 2013 bis 2016 oft in Kathimerini (Καθημερινή) und in Vima (Βήμα)
aus meinem Buch: Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος (Panos Terz), Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Φιλοσοφία, Διεθνές Δίκαιο, Διεθνείς Σχέσεις, Πολιτολογία, Πρώτος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung, populärwissenschaftlich: Philosophie, Völkerrecht, Internationale Beziehungen, Politik, Erster Band) ), ISBN: 978-620-0-61337-0, Saarbrücken 2020, 289 Seiten, S. 95

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