Zweige und Institute des Völkerrechts als Gegenstand der Völkerrechtstheorie

Zweige  und Institute  des Völkerrechts als Gegenstand der Völkerrechtstheorie

Zunächst sei die Bemerkung vorangestellt, dass fast ausschließlich Völkerrechtler der ehemaligen Sowjetunion sich der Zweigproblematik zugewandt haben, und dass es außerdem über die Zweitkriterien keine einheitliche Auffassung festgestellt werden kann. Werden die verschiedenen Meinungen kritisch und wertend zusammengefasst, so müssen die folgenden Kriterien vorliegen, damit von einem Völkerrechtszweig gesprochen werden kann :

a) Ein bestimmter Bereich der internationalen Beziehungen, in concreto ein spezieller Gegenstand;1.  b) Auf alle Fälle ein mit dem Gegenstand in enger Verbindung stehendes spezielles Ziel;  2.  c) Spezielle Rechtsnormen mit inhaltlich ebenso speziellen Rechten und Pflichten;3 d) Die Normengruppe stütz sich auf ein grundlegendes Völkerrechtsprinzip 4 und widerspricht keinem der sieben grundlegenden Völkerrechtsprinzipien; e) Die Zweigmaterie, also der Gegenstand ist von der Mehrheit der Staaten als wichtig und als normierungsnotwendig betrachtet worden; f) Möglicherweise liegt ein besonderes Rechtserzeugungsverfahren vor 5  wie z. B. bei der Internationalen Seerechtskonvention von 1982. Dagegen ist jedoch Einwand durchaus berechtigt, weil die Normierungsmethode bzw. der Regelungsmechanismus im Völkerrecht grundsätzlich einheitlich ist. Bedingt durch den Normierungsgegenstand kommt es allerdings zu Modifizierungen des einheitlichen

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1. Vgl. ähnlich z. B. I. T. Ussenko, das Prinzip des demokratischen Friedens – die Grundlagen des Völkerrechts, in: SEMP, 1973, Moskau, 1975, S. 34; L. A. Iwanaschenko, Internationales Sicherheitsrecht – Ein neuer Zweig des modernen Völkerrechts, in: SGPiP, 1985 (6), S. 99 ff; W. I. Margiew, Zum System des Völkerrechts, in: Prawowedenije, 1981 (2), s. 106; D. I. Feldmann (Anm. 107), S. 47 (alle Quellen in Russisch).
2. Vgl. ähnlich auch L. A. Iwanaschenko, ibid., S. 99 ff; I. T. Ussenko, ibid., S. 34.
3. Vgl. ähnlich auch J. A. Schibajjewa, Das Recht der internationalen Organisationen als Zweig des gegenwärtigen Völkerrechts, in: SGiP, 1978 (1), S. 105 (in Russisch); W. I. Margiew (Anm. 137), S. 107; M. B. Ramirez, El derecho internacional del desarrollo, nueva rama del derecho internacional publico, in: Bolletin Mexicano des Derecho Comparado, 1986 (57 – XIX), p. 859.
4. So I. T. Ussenko (Anm. 137), S. 34; L. A. Iwanaschenko (Anm.1)                                                                                  S. 99 ff.; M. B. Kotzew, Die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des gegenwärtigen Völkerrechts, Rechtswesen und Bedeutung, in: Prawna Misal, 1985 (2), S. 71 (in Bulgarisch).
5. Vgl. M. B. Ramirez (Anm. 1), p. 859.
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völkerrechtlichen Rechtserzeugungs- und Normenbildungsprozesses,6  der auf den Kodifikationskonferenzen im allgemeinen als treaty making process bekannt ist. Es liegt bereits eine Definition des Völkerrechtszweiges vor: „Gesamtheit der Rechtsprinzipien und Normen, die die spezifischen Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten auf einem bestimmten Gebiet ihrer gegenseitigen Beziehungen regeln sowie ein Rechtsregime einer bestimmten Sphäre festlegen“.7

Im Prinzip kann man dieser Definition zustimmen. Sie ist allerdings sehr allgemein. Daher soll hier versucht werden, auf der Grundlage der oben gewonnenen Erkenntnisse eine konkretere Definition zu formulieren: Der Völkerrechtszweig ist ein rechtlich geregelter, bestimmter Bereich der internationalen Beziehungen mit besonderen Normen sowie mit besonderen Rechten und Pflichten, der sich auf ein grundlegendes Völkerrechtsprinzip stützt, dessen Normen den sieben grundlegenden Völkerrechtsprinzipien nicht widersprechen, dessen Normierungsnotwendigkeit von der Staatenmehrheit akzeptiert worden ist und außerdem ein modifiziertes Rechtserzeugungsverfahren aufweist.

Will man die gegenwärtig tatsächlich vorhandenen Völkerrechtszweige aufzählen, so ist zunächst methodisch davon auszugehen, welche in den Völkerrechts-Lehrbüchern, international gesehen, normalerweise und traditionell Erwähnung finden. D. h. über sie liegt ein Consensus generalis doctorum et professorum vor: Diplomaten- und Konsularrecht, Humanitäres Völkerrecht („Ius in bello“), Internationales Verwaltungsrecht, Internationales Vertragsrecht (Völkervertragsrecht), Internationales Seerecht (Völkerseerecht), Internationales Luftrecht, Weltraumrecht, Völkerrechtlicher Schutz der Menschenrecht,

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6. Vgl. Hierzu sehr ausführlich P. Terz,  1999). Cuestiones teóricas fundamentales del proceso de formación de las normas internacionales, Con especial análisis de las recoluciones de la ONU, Universidat Santiago de Cali, 1999 , speziell pp. 65 – 71, ss. Vgl. ferner: W. I. Margiew (Anm. 1), S. 106; I. W. D. Sorokon, Die Methode der rechtlichen Regelung, Moskwa, 1976, S. 118 (in Russisch).
7. So das sowjetische Standardlexikon des Völkerrechts („Slowar meshdunarodnowo prawa“), (hrsg.) von B. F. Petrowski/B. M. Klimenko/J. M. Rybakow), Moskwa, 1982, S. 142.

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Internationales Flüchtlingsrecht, Internationales Recht der Staatennachfolge, Internationales Strafrecht, Internationales Wirtschaftsrecht (größtenteils). Weitere Völkerrechtszweige sind hinzugekommen: Internationales Atomrecht, Internationales Sicherheitsrecht, Vertragsrecht der internationalen zwischenstaatlichen Organisationen, das „Entwicklungsvölkerrecht“ in statu nascendi sowie – bedingt durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt  8  – das Internationale Umweltschutzrecht und das Internationale Informations- und Kommunikationsrecht.

Während einige Völkerrechtler weitere Zweige nennen wie z. B. das Internationale Medizinrecht, das Internationale Meteorologische Recht, das Internationale Handelsrecht 9 , das Internationale Arbeitsrecht  10 , finden andere diese Sicht übertrieben 11 oder lehnen sogar die Zweigproblematik im Völkerrecht überhaupt schlicht weg ab. 12 150
Die Elemente, vor allem die Prinzipien und Normen eines Völkerrechtszweiges, machen dessen System aus. Die Wechselbeziehungen wiederum dieser Elemente untereinander stellen seine Struktur dar. Am perfektesten ist dies bei einigen Zweigen wie z. B. bei dem Völkerseerecht festzustellen, das einen gewaltigen Prinzipien- und Normenkomplex wie aus einem Guss bildet.

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8. Vgl. ähnlich auch J. Azud, Die wissenschaftlich-technische Revolution und das Völkerrecht, in: Právny Obzor, 1980 (63 – 9), s. 769 ff. (in Tschechisch); M. I. lasaarew, Das Völkerrecht und die wissenschaftlich-technische Revolution, in: SEMP, 1978, Moskau, 1980, S. 41 ff. (in Russisch).
9. So beispielsweise S. A. Malinin, Friedliche Nutzung der Atomenergie, Völkerrechtliche Fragen, Moskwa, 1971, S. 6 – 9 (in Russisch).
10. Vgl. z. B. G. I. Tunkin, Ideologischer Kampf und Völkerrecht, Moskau, 1967, S. 117 (in Russisch).
11. So D. I. Feldmann  (1983). Das System des gegenwärtigen Völkerrechts, Moskau , 1983, S. 9.
12. Vgl. z. B. J. A. Schibajewa (Anm.1), S. 103.

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6. Institute des Völkerrechts als Gegenstand der Völkerrechtstheorie

Weil die ausführliche Behandlung der relativ komplizierten Instituts-Problematik den Rahmen des vorliegenden Beitrages bei weitem sprengen würde, kann darauf nur knapp eingegangen werden. Auch bei dieser Problemstellung gilt die Festlegung, dass sich fast ausschließlich Völkerrechtler der ehemaligen Sowjetunion ihr zugewandt haben. D. I. Feldmann schätzt allerdings den Diskussionsstand in den 60er Jahren sehr kritisch ein: Das Institut werde häufig betrachtet als „zu umfassend, verschwommen und unbestimmt.13  Es herrscht in der Tat ein Begriffswirrwarr vor.
Deswegen erweist sich der linguistisch-semantische Weg ad fontes als absolut notwendig. Das lateinische Wort Institutum bedeutet „jede durch Sitte, Gewohnheit, Verfassung … Anordnung des häuslichen und bürgerlichen Lebens 14 oder – etwa konkreter – das „durch positives (gesetzlich verankertes) Recht geschaffene Rechtsgebilde (z. B. Ehe, Familie, Eigentum o. ä.).15 Hieraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass erst durch das Recht ein Wort zum Rechtsbegriff wird. Aus der Rechtspraxis (Gesetzesbücher) lässt sich ableiten, dass zu einem solchen Institut mehrere und sogar zahlreiche Spezialnormen gehören, die in ihrer Gesamtheit ein Rechtsgebiet bzw. einen Rechtszweig wie z. B. Familienrecht, Arbeitsrecht, Polizeirecht etc. ausmachen.
Diese Erkenntnis kann auf das Völkerrecht angewandt werden: Ein Völkerrechtsinstitut ist ein durch internationale Konventionen geschaffenes Rechtsgebilde oder Rechtsphänomen. Aus Platzgründen seien hier nur einige Beispiele genannt wie z. B. Staatennachfolge, die insgesamt in zwei Konventionen umfassend geregelt wird: „Wiener

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13.  D. I. Feldmann, Die Anerkennung von Staaten im gegenwärtigen Völkerrecht, Kasan, 1965, S. 39 (in Russisch).
14.  K. E. Georges, Kleines Handwörterbuch, Lateinisch-Deutscher Teil (2734 S.), Leipzig, 1980, S. 1318.
15.  Duden, Das große Fremdwörterbuch, Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter (1540 S.), Leipzig, et alt., 2000, S. 629.

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Konvention über die Staatennachfolge in Verträge“ von 1978 und „Wiener Konvention über Staatennachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden“ von 1983. Es entstehen mehrere Institute. Ferner ist der Vertrag zu erwähnen, dessen Regelung in der „Wiener Konvention über das Recht der Verträge“ von 1969 sowie in der „Wiener Konvention über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen“ von 1986 umfangreich erfolgt ist. Relativ viele Institute sind in der „Seerechtskonvention“ von 1982 enthalten wie z. B. Territorialgewässer, Anschlusszone, Meerengen, Festlandsockel, Offenes Meer und Meeresboden. Zu jedem dieser Institute gehören gleich geartete Normen, die ähnliche Materien regeln. Die Gesamtheit dieser Institute und Rechtsnormen bilden im Wesentlichen der Völkerrechtszweig Völkerseerecht.
Die Institute sind in den oben genannten Konventionen auf der Basis der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts rechtlich geregelt bzw. verankert worden. Dies ist durch zahlreiche Rechtsbestimmungen, Rechtsnormen geschaffen worden. Hieraus folgt, dass das jeweilige Institut zwischen den grundlegenden Prinzipien und den Spezialnormen steht. Gerade in diesem Verhältnis liegt auch seine Funktion. Eine andere Schlussfolgerung besteht darin, dass zwischen den grundlegenden Völkerrechtsprinzipien und den Völkerrechtsinstituten ein vertikales Verhältnis besteht. Das Verhältnis jedoch zwischen den Instituten eines Völkerrechtszweiges sind eher horizontaler Natur. Dies gilt ebenso für die Beziehungen der zu einem Institut gehörenden Spezialnormen untereinander. Gehört aber dazu ein Prinzip, dann ist sein Verhältnis zu den Spezialnormen eindeutig vertikal. Weil aber Institute wichtige Elemente der jeweiligen Zweige sind, entsteht zumindest chronologisch eine interessante Kette: Grundlegende Völkerrechtsprinzipien – Völkerrechtsinstitute – Völkerrechtsnormen spezieller Natur – Völkerrechtszweige. In gnoseologischer Hinsicht sieht aber die Kette anders aus: Grundlegende Völkerrechtsprinzipien – Völkerrechtszweige – Völkerrechtsinstitute – Völkerrechtsnormen.16

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16. E. A. Puschmin sieht eine „Struktur-Triade“: Norm – Institut – Zweig, Unter Anwendung der Dialektik betrachtet er ferner, ausgehend von dem Wechselverhältnis von Allgemeinem, Einzelnem und Besonderem, das Prinzip als das Allgemeine, das Institut als das Einzelne und die Norm als das Besondere. In Kenntnis seines Dialektik-Verständnis kann ich seinen interessanten Gedankengängen folgen und grundsätzlich zustimmen. Vgl. seinen stark theoretischen Beitrag „Über den Begriff …“ (Anm. 1), S. 81 – 82.

Quelle :  Panos Terz, Die Völkerrechtstheorie, Versuch einer Grundlegung in den Hauptzügen, Pro theoria generalis Scientiae Iuris inter Gentes, in : Papel Politico, 2006/11/2, S.683-737. hrsg, von der Facultad de Ciencias Politicas y Relaciones Internacionales , Pontificia Universidad Javeriana.

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