Russland und Russen, Eine Analyse aus Sicht der Geschichte und der Ethnologie,Orthodoxie Russische und Ukrainische
Es besteht die Gefahr, dass wir aus lauter Bäumen den (russischen) Wald nicht sehen. Daher möchte ich die Reaktion bitten, den folgenden Fachkommentar zu veröffentlichen, der sich auf jahrzehntelange Vorarbeiten stützt.
Russland und Russen, Eine Analyse aus Sicht der Geschichte und der Ethnologie
Um die Russen und speziell die russischen Politiker besser verstehen zu können, bedarf es eines komplexen Herangehens, der die Geschichte und die Ethnologie in Betracht zieht.
1. Russland gehört zu jenen europäischen Ländern, die weder die Renaissance noch die Aufklärung (es gab nur Ansätze : Lomonossow),, noch die bürgerliche Revolution, noch die Demokratie, noch den Rechtsstaat, noch das Individuum, noch den citoyen, noch die bürgerlichen Freiheiten und schließlich noch die Menschenrechte gekannt haben. Es gibt insbesondere keine demokratische Tradition und als Konsequenz auch kein Demokratiebewusstsein.
Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. haben russische Intellektuelle die Ratio (Vernunft) der europäischen Aufklärung schroff abgelehnt. Dabei führten sie folgende Hauptargumente ins Feld :
a) Die westliche Denkart sei unterentwickelt, weil sie sich ausschließlich auf die Ratio stützt und infolgedessen dem Menschen nicht helfen kann, den „richtigen Weg“ zu finden. Im Unterschied vom Westen würde sich die „russische Seele“ als eine mythische und mystische Erscheinung präsentieren. Sie betrachteten die rationalistische Klugheit als eine westliche “Krankheit“ und zwar als reine Klugheit ohne Weisheit und zugleich betonten sie die moralische Notwendigkeit , wie sie in den bekannten Romanen Dostojewskis verherrlicht wird wie z. B. „Eine Person kann weise sein, aber zum weisen Handeln reicht die Klugheit nicht aus .” Oder das Vielsagende, „Das für uns wahrhaftige ist für Europa fremd“.
Der Hauptgedanke Dostojewskis besteht darin, dass menschliche Probleme nicht durch die Vernunft , sondern durch den christlichen Glauben sowie durch die „Weisheit des Herzens“ gelöst werden können. Dem Wesen nach hat die Mystik der orthodoxen Kirche das gesamte Leben des russischen Volkes durchdrungen. Auch der andere Literaturriese Lew Tolstoi unterstreicht die „Reinheit“ des russischen Volkes und seine Fähigkeit, die Rettung im christlichen Glauben zu finden.
Die Gegner des Westens wurden als „Slawophile“ genannt, zu denen auch Petro Kirijewski gehörte, der auf den großen Unterschied zwischen dem westlichen und dem „russischen Geist“ folgendermaßen hinwies : Der westliche Geist führe zum Individualismus (Verwechslung der Individualität mit dem Individualismus) und hilft dem Menschen nicht dazu, die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, während der „russische Geist“ , gestützt auf den christlichen Glauben in der Lage ist, das Wesen der Dinge in ihrer Gesamtheit zu erfassen.
Es fällt auf, dass solche Auffassungen eher der vorkapitalistischen Zeit entsprachen und eigentlich die russische Realität fast getreu widerspiegelten. Ihre Rückständigkeit ist durch nichts zu überbieten.
Das unfassbare ist, dass derartige Ansichten in Russland in erster Linie von Theologen aber auch von Politikwissenschaftlern und einigen Philosophen vertreten werden. Es sei in erster Linie Alexander Geljewitsch – Dugin erwähnt, der im allgemeinen als einfußreicher Berater führender Politiker , einige meinen er sei Berater auch Putins, gilt . Seine Kernthesen sind die folgenden : a) Die Werte des Westens wie Demokratie, Parlamentarismus, Freiheiten, Menschenrechte etc. seien nicht universell. b) Die “russische Zivilisation“ sei vom orthodoxen Christentum geprägt c) Die russische Zivilisation“ sei der westlichen Zivilisation überlegen. d) Infolgedessen Russland benötige nicht die westlichen Werte. e) Es sei notwendig, ein sacrales Großreich unter der Führung Russlands in Eurasien zu schaffen.
Das gefährliche dieser Phantasien besteht darin, dass sie vor allem bei höheren Militärs Anklang finden. Seine Schriften gehören zur Pflichtliteratur an den russischen Militärakademien.
2. Russland hatte das große historische Pech, nicht wesentliche Elemente der griechisch-römischen Kultur, sondern die christlich geprägte Kultur des byzantinischen Reiches (korrekter des Oströmischen Reiches) und vor allem den Orthodoxen Glauben übernommen zu haben. Hierdurch ist ein Gesellschafts- und Menschenbild entstanden, das starke mittelalterliche Züge aufweist , wobei die Mystik als essentielles Element der Orthodoxie eine große Rolle gespielt und weiterhin spielt , obwohl mehrere Jahrzehnte ein atheistisches Regime herrschte.
3. Die wesentlichen Elemente dieses Gesellschafts- und Menschenbildes sind die folgenden :
Jahrhundertelang konnte kein Individuum geformt werden , vielmehr war und ist der Einzelne einer in der Masse. Somit fehlen die wesentlichen Eigenschaften des Individuums wie z.B. die Autonomie , die Eigenverantwortung und der Entscheidungswille. Der Einzelne hat sich daran gewöhnt, dass andere, z. B. vor der Oktoberrevolution das Väterchen (Übersetzung des Wortes Attila (Atta =Vater) aus den Turksprachen) Zar oder die Regierung alles für ihn regeln. En passant sei auch der kommunistische Totalitarismus erwähnt, der das Individuum ohnehin fast eliminiert hat.
4. Weil das Individuum fehlt, konnte und kann sich kein moderner Bürger herausbilden, der normalerweise von der Wechselbeziehung von Rechten und Pflichten ausgeht. Aber gerade dies ist die conditio sine qua non für die Existenz eines Staatsbewusstseins. Jedoch als Kompensation für das fehlende Staatsbewusstsein ist speziell unter Putin zielgerichtet ein überdurchschnittlich starkes Nationalbewusstsein geschaffen worden.
Somit gab es und weiterhin gibt es immer ideale Voraussetzungen für absolutistische, autoritäre und sogar totalitäre Regime. Daher ist es kein Wunder, dass Putin beim russischen Volk offenkundig beliebt ist. Dem Wesen nach ist Putin das „Väterchen“ Zar. Es kann somit konstatiert werden, dass Putin für Russland der richtige führende Politiker ist. Das russische Volk kann tatsächlich mit der Demokratie nicht viel anfangen. Gleiches gilt und für das bielorussische und sogar im Prinzip auch für das ukrainische Volk sowie für die anderen Völker mit orthodoxer Tradition (z.B. Georgier, Armenier, Moldawier, Rumänen, Bulgaren, Serben, Montenegriner und teiweise auch Griechen) . Über die Griechen schreibt z.B.der angesehene Philosoph Stelios Ramfos, sie seien seit 200 Jahren unterwegs nach Europa ohne es jedoch erreicht zu haben.
Der Weg der erwähnten Völker nach Europa wird wahrhaftig noch mehrere Jahrzehnte dauern.
Dass speziell Russland hervorragende Schriftsteller wie z.B. Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi, Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Boris Pasternak et alt. und Komponisten wie z.B. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Nikolai Rimski-Korsakow, Dmitri Schostakowitsch , Sergei Rachmaninow, Igor Strawinsky et alt. hervorgebracht hat, ändert nicht viel an dieser Feststellung.
Die Zeit (7.12.18, 11.3.20), Münchner Merkur (8.12.18) und Facebook :Neue Zürcher Zeitung (4.1.19, 16.4.19), Der Tagesspiegel (14.1.19), Münchner Merkur, Wiener Zeitung (11.3.20)
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Russisch-Ukrainischer Kirchenstreit
1. Russland und die Ukraine gehören zu den europäischen Staaten sui generis, weil sie genauso wie andere Staaten Osteuropas und des gesamten Balkan mit orthodoxer Tradition weder die Renaissance, noch die Aufklärung, noch die bürgerliche Revolution, noch den bürgerlichen Staat, noch eine funktionierende Demokratie hatten. So betrachtet, sind sie in erster Linie in geographischer Hinsicht Teil Europas. Kurzum, sie sind in politischer Hinsicht zurückgebliebene Staaten, deren Zukunft sehr ungewiss ist.
2. Für diesen Zustand gibt es mehrere Gründe, aber der wichtigste ist in der extrem negativen Haltung der orthodoxen Kirche zu den welthistorischen Europäischen Aufklärung zu suchen. Das Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild der Orthodoxie ist theozentristisch und nicht anthropozentristisch orientiert, wodurch die Herausbildung des selbstbewussten Individuums und des staatstragenden Bürgers massiv verhindert worden ist.
3. Dennoch ist die identitätsstiftende und identitätssichernde Rolle der Orthodoxie bei der Ethnogenese in Ost- und in Südosteuropa nicht zu unterschätzen. Sowohl allgemein , als auch konkret vermittels der Autokephalie der jeweiligen Nationalkirche konnte eine eigene nationale Identität geschaffen werden. Genau so war es bei den Balkan-Völkern im 19. und im 20 Jh. So ist es normal, dass die ukrainische Kirche sich von der russischen Kirche trennt und mit der Hilfe des Ökumenischen Patriarchats der Orthodoxie Autokephalie im Sinne einer Nationalkirche erlangt. Hierdurch wird die eigene nationale Identität wesentlich gestärkt. Es ist nunmehr zu einer Spaltung der ukrainischen Orthodoxie gekommen. Es sei en passant darauf verwiesen, dass die Russische Kirche bereits im 16. Jh. mit Zustimmung des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel die Autokephalie erlangt hat.
4. Aber dadurch werden vitale Wirtschaftsinteressen der russischen orthodoxen Kirche als auch allgemein des Imperium Russicum direkt berührt. Beide Kirchen befinden sich nunmehr in einem unchristlichen feindlichen Zustand genauso wie im allgemeinen Russland und die Ukraine.
5. Zugleich kann die russische Kirche ihre jahrhundertealten Träume über die Erlangung der Führung der gesamten Orthodoxie und die Verwandlung Moskaus zu ihrem Zentrum endgültig begraben. Wer sich mit dem Ökumenischen Patriarchat streitet, zieht letzten Endes den Kürzeren. Neue Zürcher Zeitung (17.12.18,26.5.22) ,Der Spiegel (19.10.18), Wiener Zeitung (15.12.18), Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung (17.12.128), Zeit (22.4.22)