PANOS TERZ ( Universtät Leipzig )
Die Normbildungstheorie (Eine völkerrechtsphilosophische,
völkerrechtssoziologische und völkerrechtstheoretische Studie)
ACTA UNIVERSITATIS SZEGEDIENSIS DE ATTILA JÓZSEF NOMINATAE , ACTA JURIDICA ET POLITICA Tomus XXXIV. Fasciculus 9 , SZEGED 1985
(Nachträgliche Bemerkungen : 1. Die vorliegende Studie stellt das vorläufige Ergebnis jahrelanger Untersuchungen dar. Es folgten in den nächsten Jahren mehrere Studien zu den Normbildungstheorie : Normenbildung in den internationalen Beziehungen der Gegenwart, in : Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig (Sondernummer „Normative Grundlagen für ein System der internationalen Sicherheit“), Leipzig 5/1990, S. 443– 459 ; For a modern theory of the creation of norms in the nuclearcosmic era, in: Miscellanea in honorem Demetrii S. Constantopuli, Aristoteles Universitas Thessalonicensis, Internationale Festschrift (Pax, Ius, Libertas), Vol. B, Thessaloniki 1990, pp. 1163– 1175, Uni Thessaloniki ; Cuestiones teoricas fundamentales del proceso de formación de las normas internacionales, Universidad Santiago de Cali, 1999, ISBN 958-96666—0 (Höhepunkt und Abschluß der Untersuchungen). 2. Die Studie wurde mit Unterstützung des ungarischen Fachkollegen Dr. Laszlo Bodnar an der Universität Szeged veröffentlicht. Dies widersprach jedoch den damaligen DDR-Rechtsbestimmungen über Publikationen im Ausland. Ich wurde deswegen an der Universität Leipzig disziplinarisch zur Verantwortung gezogen und mit Publikationsverbot belegt.
Ferner habe ich es gewagt, die herrschende Völkerrechtstheorie des führenden sowjetischen Völkerrechtlers Tunkin als falsch zu widerlegen und zu demontieren, was damals einem Sakrileg glaichkam, weil Tunkin als sakrosankt galt . Leipzig, Juli 2016)
1. BEGRÜNDUNG DER THEMENSTELLUNG
Die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung, vor allem die Friedenssicherung, die zunehmende Rolle der Entwicklungsländer, insbesondere ihre mit Vehemenz vorgetragene Forderung nach der Schaffung einer Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung auf der Basis der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Nichtreziprozität und die wachsende Bedeutung
Die politisch-nichtrechtlichen Ergebnisformen des internationalen Willensbidungsprozesses, speziell die Resolutionen der UNO-Vollversammlung, werfen normbildungstheoretische Fragen von eminenter Bedeutung auf.Hierdurch wird die Völkerrechtswissenschaft in den sozialistischen, den kapitalistischen und den jungen unabhängigen Staaten mit relativ neuen Problemstellungen konfrontiert.
Es fehlt nicht an Versuchen,problemadäquate Lösungswege zu finden. Dabei drängt sich die Frage auf, ob die Mitte des 19.Jh.hauptsächlich von Triepelbegründeteund dann Mitte des 20.Jh. unter völlig anderen historischen Bedingungen von Tunkin weiterentwickelte Vereinbarungstheorie den komplizierten Anforderungen der Gegenwart gerecht wird.
2. KOMPLEXITÄT UND GLOBALITÄT ALS VÖLKERRECHTSMETHODOLOGISCHE GRUNDSÄTZE
Die bereits erwähnten und normbildungstheoretische Fragen aufwerfenden Faktoren zeichnen sich durch eine hohe Komplexität aus, denn sie weisen politische, ökonomische, philosophische, soziologische, psychologische, juristische (vor allem rechtstheoretische und völkerrechtliche) etc. Aspekte auf. Da sie im Grunde alle Kontinente und Staaten erfassen, werden sie außerdem durch Globalität charakterisiert. Die völkerrechtswissenschaftliche Durchdringung dieser Probleme erfordert daher eine den Erfordernissen der internationalen Beziehungen der Gegenwart adäquate Völkerrechtsmethodologie, deren wichtigsten Forschungsgrundsätze komplexer und globaler Natur sein müssen. Natürlich müsste die sich auch auf die Normbildungstheorie erstreckende Völkerrechtsmethodologie speziell auf der philosophischen Methodologie als Leitlinie sowie auf der allgemeinen rechtswissenschaftlichen Methodologie beruhen. Ein weiteres Fundament müsste die Völkerrechtstheorie sein, die sich ihrerseits größtenteils auf die Rechtstheorie stützt.
Direkter Bezugsgegenstand der Völkerrechtsmethodologie als einer Theorie von Forschungsmethoden sind m.E. alle sich auf das Völkerrecht in seiner Totalität erstreckenden Methoden, d.h. die Art und Weise des Herangehens an die Erforschung der Völkerrechtsrealität. Erst vermittels der Methoden gelangt die Völkerrechtsmethodologie zu ihrem indirekten Bezugsgegenstand, zu den eigentlichen völkerrechtstheoretischen, darunter zu den normbildungstheoretischen Fragestellungen.
Während letztere eine Widerspiegelung der Gegenstände an sich darstellen, erfolgt in der Methode, die stets theoriebezogen ist,die Gegenstandswiderspiegelung nur in Verbindung mit der Zielstellung des Forschungssubjekts.
Während sich die Komplexität im Rahmen der Völkerrechtsmethodologie auf alle essentiellen Determinanten der Völkerrechtsrealität erstreckt, kann durch die Globalität eine eurozentrische Betrachtungsweise vermieden werden.Hierdurch erhöht sich die Bereitschaft und die Fähigkeit, bestimmte Auffassungen von Völkerrechtlern aus jungen unabhängigen Staaten über den Normebildungsprozeß besser zu verstehen.
3. DIE DIALEKTIK DES NORMENBILDUNGSPROZESSES
3a) DAS VÖLKERRECHTSPHILOSOPHISCHE UND DAS VÖLKERRECHTSSOZIOLOGISCHE VOR- UND UMFELD DES NORMENBILDUNGSPROZESSES
Bei der Untersuchung der Normenbildungsprozeß-Problematik gilt es, einige ausschlaggebende Fakten in den internationalen Beziehungen der Gegenwart zu beachten. An erster Stelle ist die Tatsache zu nennen, dass sich international große Wandlungsprozesse ereignen. Hieraus ergibt sich einerseits, dass der Grundwiderspruch zwischen den beiden Gesellschaftsordnungen der bestimmende ist, obwohl er in seiner Wirkungsweise durch das Auftreten der jungen unabhängigen Staaten leicht modifiziert wird, und andererseits, dass die friedliche Koexistenz nach wie vor das politische Grundprinzip ist.
Die Friedenssicherung stecht dabei in enger Verbindung mit der friedlichen Koexistenz, ist ihre wichtigste Seite, geht aber über die Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten hinaus und stellt eigentlich ein selbständiges politisches Prinzip dar, das m. E. an der Spitze der Hierarchie aller anderen politischen Prinzipien sowie der Völkerrechtsprinzipien steht und ihr Wesen durchdringt. Somit ist die Friedenssicherung die conditio sine qua non für die Untersuchung des internationalen Normenbildungsprozesses sowie für die Erarbeitung einer modernen Normbildungstheorie.
Von der Friedenssicherung absetzend, sollten m.E. weitere Probleme der Menschheitsentwicklung (1) der normtheoretischen
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1. Zwischen der allmählichen Lösung der globalen Probleme der Menschheitsentwicklung ( z. B. der Versorgung der Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln, der Erschöpfung der Naturessourcen, der Sicherung der Energieversorgung, der Belastung der Umwelt durch die Intensivierung des Stoff-Wechselprozesses zwischen Gesellschaft und Natur und dem Wachstum der Bevölkerung) und der Friedenssicherung besteht kein Gegensatz. Letztere ist im Gegenteil die wichtigste Voraussetzung für die Bewältigung dieser Probleme.Vgl. in diesem Sinne auch M.Maximowa, Wsemirnoje chosjaistwo, nautschno-technitscheskaja revoluzija in meschdunarodnyje otnoschenija, in: Mirowaja ekononiika i meschdunarodnyje otnoschenija, Nr.5, Moskwa, 1979, S.22.
2. Dabei geht es nicht um rechtliche Normen (Verträge, Konventionen) , wie J. G. Barsegow meint, sondern auch um politische Normen nichtrechtlichen Charakters , z. B. um Resolutionen. Meschdunarodno-prawowyje aspekty globalnych problem sowremennosti, in : Sowjeskoje gossudarstwo i prawo, Nr. 6, 1983, S. 83.
3. Der Autor stützt sich bei der Ausarbeitung der vorliegenden Studie über die Normbildungstheorie in erster Linie auf die Publikationen der Leipziger ujnd Berliner Rechtstheoretiker.
4. Dabei sind die Produktionsverhälnisse „die wirklichen, lebendigen Beziehungen der Menschen zueinander im Produktionsprozeß”. A.Bauer—H.Crüger— G.Koch—Chr.Zak (folgend : A.Bauer et alt..), Basis und Überbau der Gesellschaft, Berlin 1974, S.16, 24—25, 62.
5. Karl Marx im Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie”, in : K. Marx—F. Engels, Werke, Band 13, S. 8—9.
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Betrachtungsweise zugrunde gelegt werden, da ihre Regelungsbedürftigkeit zur Schaffung neuer Normen (2) und Regelungsmechanismen führt.
Obwohl die souveränen Staaten die wichtigsten Teilnehmer am internationalen Willens- und Normenbildungsprozeß sind, seien sie nach der Friedenssicherung, d.h. an zweiter Stelle genannt, um zum einem den großen Unterschied zum 19. Jh. –damals gab es die globalen Pobleme der Menschheitsentwicklung nicht- evidenter zu machen und zum anderen nicht so sehr die Rollle des einzelnen Staates mit seiner besonderen Interessenlage, sondern die Beziehungen zwischen den den souveränen Staatzen im Interesse der der Friedenssicherung und das in Verbindung damit stehende staatliche Verhalten in besonderem Maße zu unterstreichen. Das Interesse des einzelnen Staates ist, abgesehen davon , ein polydimensionales und multisynthetisches Phänomen, dessen Wesen und Bandbreite nur auf der Basis des dialektischen Materialismu richtig erfasst werden kann. Dies gilt auch für den sich auf das Staatsinteresse stützenden Staaswillen . Somit handelt ess ich hierbei um philosophische Fragestellungen, die auf völkerrechtlich relevante Materien konsequent angewandt , in der Perspektive zur erabeitung einer Völkerrechtsphilosophie führen könnten. Zugleich geht es um rechtstheoretische Komponenten, die nur unter Beachtung der neuesten Forschungsergebnisse der Rechtstheorie (3) richtig erfasst werden können.
Staaatsinteressen und Staatswille sind zutiefst materiell determiniert. Sie wurzeln „in letzter Instanz“ in den äußerst komplexen materiellen Existenzbedingungen der Gesellschaft. Es ist ein Axiom der materialistischen Philosophie, dass die ökonomischen Verhältnisse die wichtigsten Umstände sind, „die den ideellen Motiven das Gepräge geben“. Die Basis einer Gesellschaft als „die öokonomische Struktur der Gesellschaft , die von der Gesamtheit der jeweiligen vom Willen der Menschen unabhängigen Produktionsverhältnisse einer Gesellschaftsformation gebildet wird“, (4), ist die ausschlagende materielle Existenzbedingung jeder Gesellschaft und jedes Staates. Hierauf erhebt sich „ ein juristischer und politischer Überbau“, (5) der sich aus Staatseinrichtungen, Rechtsanschauungen, Kunst, Moral, Religion und sonstigen ideologischen Verhältnissen als Ausdruck der vorhandenen Klasseninteressen zusammensetzt. (6)
Die ideologischen Verhältnisse sind nach dem neuesten Stand der philosophischen Forschung weder materiell noch ideell, sondern „objektiv-reale gesellschaftliche Beziehungen : Verhältnisse im Bereich des Politischen, Juristischen, Moralischen, Religiösen”.(7)
Zwischen den einzelnen Überbauelementen besteht ein enger Zusammenhang und es erfolgt eine Wechselwirkung. Gerade aus dieser Dialektik des Überbaus ergibt sich, dass die einzelnen Elemente und die darin existierenden Normen rechtlichen und moralischen Charakters eine widersprüchliche Einheit bilden. Daher bestehen im Überbau der kapitalistischen Gesellschaft Rechtsnormauffassungen und Moralnormen nicht nur der herrschenden Klassen, sondern auch der anderen Klassen und Schichten. Auch letztere gewinnen Einfluß auf die internationalen Beziehungen sowie auf das Völkerrecht, (8) darunter ebenfalls auf den Normenbildungsprozeß. Basis und Überbau bilden eine dialektische Einheit, stehen in einem Wechselverhältnis, in dem jedoch die Basis bestimmend und primär ist. In ihr wurzeln „in letzter Instanz” (9) die im Überbau enthaltenen politischen, rechtlichen und anderen Anschauungen. Der Überbau wiederum reproduziert ideologisch die Basis, bildet sie ab und wirkt darüber hinaus aktiv auf sie ein.
Eines der wichtigsten Bestandteile des Überbaus in seiner Gesamtheit ist der juristische Überbau. Zu ihm gehören in erster Linie das Recht, aber auch die Rechtsauffassungen, die Rechtsverhältnisse, das Rechtsbewusstsein, die Rechtskultur etc. (10) Diese einzelnen Elemente des juristischen Überbaus besitzen ihre Besonderheiten und haben eine „originäre” Rolle und relative Selbständigkeit in der juristischen Überbaustruktur. In diesem Sinne weisen sie als Objekt „innere” Widersprüche auf, (11) wobei zwischen ihnen ebenfalls innere Zusammenhänge bestehen.
Im Blickwinkel des Basis-Überbau-Verhältnisses betrachtet, kann konstatiert werden, dass zwischen den ökonomischen Verhältnissen und dem Recht als dem Kernstück des juristischen Überbaus „keine lineare Kausalbeziehung besteht, dass Rechtsnormen keine photographischen Abbilder objektiv-realer Verhältnisse sind”.(12) Es gibt vielmehr einen ganzen Vermittlungsmechanismus politisch-ideologischer Zwischenglieder. Erst durch sie erfolgt die Widerspiegelung der objektiv-realen Verhältnisse im juristischen Überbau und speziell im Recht. (13) Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass durch das ———————–
6.Vgl.A.Bauer et alt., Basis und Überbau in der Gesellschaft, a. a. O., S. 25, 83.
7. G. Stiehler, Die Grundfrage der Philosophie und die Unterscheidung materieller und ideologischer Verhältnisse, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr.
8, Berlin 1980, S. 951.
8.Vgl. U.—J. Heuer, Die aktive Rolle des Überbaus am Beispiel der Rechtsnormen, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 5, Berlin1980, S. 584.
9. Dieser Aspekt wurde von Friedrich Engels in seinem Brief an Joseph Bloch vom 21. 9. 1890 hervorgehoben. Vgl. in : K. Marx—F. Engels, Werke, Band 37, S. 463.
10. Vgl. I. Wagner, Sozialistisches Recht und juristischer Überbau, Zur Rechtskonzeption des entwickelten Sozialismus, Thesen zur zehnten wissenschaftlichen internationalen Konferenz, Karl-Marx-Universität, Leipzig, Juni1982, S. 24.
11.Vgl. I. Wagner, Recht und Widersprüche in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in : Recht und Widerspruch (Sonderhef der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena), Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Nr. 6, Jena1983, S. 718.
12. K. A. Mollnau, Einleitung zu : Probleme einer Rechtsbildungstheorie (Hrsg. K. A. Mollnau), Berlin1982, S.10. 13 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Lehrbuch, Berlin 1980, S.395.
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Basis-Überbau-Verhältnis die Totalität des gesellschaftlichen Lebens bei weitem nicht erfasst wird. Mit dem Begriff der Basis wollten die Klassiker des Marxismus die Produktionsverhältnisse aus der Gesamtheit der materiellen Lebensbedingungen des gesellschaftlichen Lebens, eben aus dem gesellschaftlichen Sein herausheben. Karl Marx spricht im Vorwort„Zur Kritik der Politischen Ökonomie” auch von der Produktionsweise, (14) zu der die Produktivkräfte ebenfalls gehören. Ein besonders wichtiger Teil des Systems der Produktivkräfte ist dabei die „materiell-technische Basis” als das„Gesamtsystem der gegenständlichen Produktionsbedingungen” der Gesellschaft. (15) Über die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse geht offensichtlich Karl Marx in der eben erwähnten Schrift hinaus, wenn er vom „gesellschaftlichen Sein” spricht, das das gesellschaftliche Bewusstsein bedingt. Das gesellschaftliche Sein, eine philosophische Fragestellung von eminenter Bedeutung, umfasst begrifflich nach der gegenwärtigen Auffassung der marxistischen Philosophie „die Gesamtheit der materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens : Existenz der Menschen selbst, einschließlich der materiellen Grundlagen ihres Geschlechts- und Familienlebens, Dichte der Bevölkerung, gesellschaftlich wirksames geographisches Milieu, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse”.(16) Man sollte noch hinzufügen : Naturreichtümer, Fruchtbarkeit und Größe des Territoriums und klimatische Bedingungen.
Die einzelnen Faktoren der materiellen Lebens- bzw. Existenzbedingungen der Menschen sind aber nicht nur ökonomischen Charakters, wie hin und wieder behauptet wird.(17) Sie bedingen in ihrer Gesamtheit das Bewusstsein, wobei natürlich die Produktionsverhältnisse (Basis) die entscheidende Rolle spielen. Das Bewusstsein wiederum ist nicht unbedingt mit dem Ideellen gleichzusetzen, weil es zwar einerseits mit dem erkennenden Subjekt zu tun hat, andererseits jedoch in seiner geselschaftsgeschichtlichen, also der soziologischen Typik zu erfassen ist. Deswegen wird neuerdings von Philosophen eine dreigliedrige Beziehung vorgeschlagen : materielle Verhältnisse; ideologische Verhältnisse ; gesellschaftliche Bewusstseinsformen. Dabei sollen die ideologischen Verhältnisse und die gesellschaftlichen Bewusstseinsformen den durch die materielle Grundlage bedingten Uberbau bilden. (18) Die materiellen Verhältnisse führen zu Bedürfnissen, die wiederum die Basis für die Interessen bilden. Die ideologischen Verhältnisse sowie indirekt auch die Bewusstseinsformen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Die bisher angestellten Überlegungen speziell über das Basis-Uberbau- Verhältnis und über die materiellen Grundlagen der Lebens- bzw. Existenzbedingungen gelten für alle Staaten und zwar unabhängig von ihrer Gesellschaftsordnung. Sobald aber ein Konkreter Staat in das Gesamtsystem der internationalen Beziehungen gesetzt wird, sieht es etwas modifiziert aus, weil zusätzlich essentielle Faktoren hinzu treten, die nur indirekt mit der Basis des Staates zu tun haben und dennoch Interessen und Willen eines Staates beeinflussen.
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14.Vgl. Karl Marx, Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie”, in : K. Marx—F.Engels, Werke. Band 13, S. 8—9.
15. Die „materiell-technische Basis” erstreckt sich auf die Produktionsmittel sowie auf die technologischen Verfahren.
Vgl. A. Bauer et alt. Basis und Überbau der Gesellschaft, Berlin 1974, S.27.
16. Ebenda, S. 27.
17. So einseitig wird dies im Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, Berlin 1982, S.38 gesehen.
18. Diesen vom Philosophen Gottfried Stiehler entwickelten interessanten Gedanken kann uneingeschränkt beigepflichtet werden. Vgl. seinen richtungsweisenden Beitrag „Die Grundfrage der Philosophie und…”, a.a.O., S.955, 962.
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Zu diesen Faktoren zählen, um die wichtigsten zu nennen, das internationale Kräftverhältnis, die internationalen Wirtschaftbeziehungen, die Bündnisverpflichtungen, die bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnten globalen Probleme der Menschheitsentwicklung, die objektiv bedingte gegenseitige Abhängigkeit der Staaten,(19) der Wille der Völker und die internationale öffentliche Meinung.
Hierbei handelt es sich um soziologische Fragestellungen, die nicht nur Gegenstand einer noch zu schaffenden Theorie und in diesem konkreten Fall einer Soziologie der internationalen Beziehungen (20), sondern auch einer Völkerrechtssoziologie sein können (21). In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass die Rechtskonzeption von Karl Marx als Bestandteil seiner gesamten Gesellschaftstheorie entwickelt wurde. Er lieferte die „erste auf dialektisch-materialistischer Grundlage fußende soziologische Rechtsbetrachtung” (22).
nteressen und Willen der Staaten werden in den internationalen Beziehungen von sozial-psychologischen Faktoren ebenfalls beeinflusst. Dabei geht es vor allem um die Psychologie der Klassen, den gewachsenen Selbsterhaltungstrieb angesichts der Gefahr eines thermonuklearen infernos— eine allgemeinmenschliche Frage— und das notwendig gewordene Klima des Vertrauens (23). Die Interessen wiederum beeinflussen das Verhalten eines Staates und nicht zuletzt das Auftreten von Regierungsvertreten auf Staatenkonferenzen und bei Verhandlungen.
Allein die knappe Behandlung der die Interessen und den Willen der Staaten beeinflussenden Faktoren macht evident, dass Interesse und Wille mehrdimensionale Phänomene sind, deren Wesen und Bedeutung nur im Blickwinkel des Basis-Überbau-Verhältnisses nicht erfasst und richtig gedeutet werden können.
Deswegen müssen zwangsläufig alle Versuche scheitern, sich auf eine Aussage von Karl Marx berufend, einen fast mystisch anmutenden Sonder-Überbau in den internationalen Beziehungen zu konstruieren. Er würde sich auf die internationalen Beziehungen als „abgeleitete Produktionsverhältnisse” stützen, die verglichen mit der Basis in jedem Staat sekundären Charakters wären (24).
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19. Die so verstandene gegenseitige Abhängigkeit der Staaten z. B. in den Bereichen des Umweltschutzes, der Rohstoffpolitik etc. hat mit der These von der „Interdependenz” nichts zu tun. Vgl. hierzu auch M. Maximowa. Wsemirnoje chosjaistwo….a. a. O., S. 25—26. Zur gelungenen Kritik dieser These vgl. W. Kortunow, Neue Faktoren in den internationalen Beziehungen und die bürgerliche Politologie, in : Meschdunarodnaja schisn, Nr. 8, Moskva 1977, S. 113 ff. (russ.).
20. Auf diesem Gebiet gibt es seit längerer Zeit Untersuchungsergebnisse sowjetischer Spezialisten für internationale Beziehungen. An erster Stelle ist z. B. zu nennen D. Jermolenko, Soziologija meschdunarodnyje otnoschenija, in: Meschdunarodnaja schisn, Nr. 1. Moskwa1967, S. 20—27.
21. Die so aufgefaßte Völkerrechtssoziologie hat mit jener Huberscher Prägung nichts gemein, denn sie stützt sich auf den dialektischen Materialismus. Vgl. den repräsentativen Beitrag von Max Huber, Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Völkerrechts und die Staatengemeinschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Nr. 4, Tübingen1910.
22. H. Klenner, Rechtssoziologie, in: Wörterbuch der Soziologie, Berlin1977, S. 638 ff.
23. Vgl.ähnlich auch E.Kondakow, Rol Sozialnoj psychologii, in : Mirowaja ekonomika i meschdunarodnyje otnoschenija, Nr.11,Moskwa 1969, S.81—82.
24. So z.B. sehr detailliert bei G. W.Ignatenko, Ot kolonialnogo reshima k nazionalnoj gossudarstwennosti, Moskwa 1966, S. 19,
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Politischen Ökonomie” In einem bestimmten Zusammenhang gemachte Aussage lautet : „Sekundäres und Tertiäres, überhaupt abgeleitete, übertragene, nicht ursprüngliche Produktionsverhältnisse. Einspielen hier internationaler Verhältnisse”(25). Zum einen ging es darum, die entscheidende Rolle der ökonomischen Verhältnisse in den internationalen Beziehungen, die umfangreicher als die ersteren sind, zu unterstreichen, zum anderen besteht kein Grund anzunehmen, dass der Dialektiker und Materialist Karl Marx an irgendeinen metaphysischen Überbau in den internationalen Beziehungen gedacht hätte. Daher bedeutet m.E. dialektisch und historisch materialistisch die Welt untersuchen, nicht das bloße Zitieren der Klassiker des Marxismus-Leninismus, sondern die konsequente Anwendung ihrer Methode bei unbedingter Berücksichtigung der Besonderheiten in der Gegenwart und zwar sowohl in der Innen- und Außenpolitik der Staaten als auch in den internationalen Beziehungen.
Die Untersuchungsergebnisse bezüglich des völkerrechtsphilosophischen und völkerrechtssoziologischen Vor- und Umfeldes des Normbildungsprozesses lassen sich wie folgt zusammenfassen: In unserer Epoche ist die friedliche Koexistenz das politische Grundprinzip n den internationalen Beziehungen : In dieser Epoche ist der Grundwiderspruch zwischen den beiden Gesellschaftsordnungen zwar bestimmend, wird jedoch in seiner Wirkungsweise durch die zunehmende Rolle der jungen unabhängigen Staaten in den internationalen Beziehungen etwas modifiziert ; Die Friedenssicherung ist ein selbständiges politisches Prinzip, das an der Spitze der Hierarchie aller anderen politischen und völkerrechtlichen Prinzipien steht ; die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung beeinflussen den internationalen Normbildungsprozeß ; in den internationalen Beziehungen der Gegenwart kommt es auf das Verhalten der souveränen Staaten im Interesse der Friedenssicherung an; das Ziel der souveränen Staaten in ihren Beziehungen zueinander kann nur ein Interessenausgleich im Interesse der Friedenssicherung sein ; das Staatsinteresse und der sich auf dieses stützende Staatswille sind polydimensionale und multisynthetische Phänomene ; die zunehmende Bedeutung der philosophischen Komponente der Fragestellungen in den internationalen Beziehungen und speziell im Völkerrecht lässt die Erarbeitung einer Völkerrechtsphilosophie als angemessen und notwendig erscheinen ; Staatsinteresse und Staatswille sind zwar materiell determiniert, wurzeln jedoch „in letzter Instanz” in den materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft, die in ihrer Gesamtheit das gesellschaftliche Sein ausmachen (Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte und darunter vor allem die „materiell-technische Basis”, Größe und Fruchtbarkeit des Territoriums, Naturreichtümer, gesellschaftlich relevante geographische Lage und klimatische Bedingungen ; Dichte der Bevölkerung etc.) ; der gesellschaftliche Überbau ist komplexer und widersprüchlicher Natur, zwischen den einzelnen Überbaulementen (Staatseinrichtungen, Rechtsanschauungen, Kunst, Moral und sonstigen ideologischen Verhältnissen) bestehen wechselseitige Zusammenhänge, der Überbau wirkt auf die Basis aktiv ein ; das Recht ist das Kernstück des juristischen Überbaus als eines Bestandteils des gesellschaftlichen Überbaus; zwischen dem Recht und den ökonomischen
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bei A.S. Gawerdowskij, Implementazija norm meschdunarodnogo prawa, Kiew 1980, S.15 und in Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, Berlin 1973 S. 41.
25. Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in : K. Marx— F. Engels, Werke, Band 13, S. 640.
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Verhältnissen existiert keine lineare Beziehung, sondern es bestehen Vermittlungsmechanismen und politisch-ideologische Zwischenglieder; das Basis- Überbau-Verhältnis erfasst nicht die Totalität des gesellschaftlichen Lebens, das sich nicht nur auf die Basis (Produktionsverhältnisse), sondern auch auf andere Bestandteile des gesellschaftlichen Seins erstreckt ; aus den materiellen Lebens- bzw. Existenzbedingungen erwachsen Bedürfnisse, auf denen die Interessen beruhen, die wiederum die Grundlage des Willens darstellen ; Staatsinteresse und Staatswille werden von weiteren Determinanten beeinflusst, zu denen in erster Linie das internationale Kräfteverhältnis, die Bündnisverpflichtungen, die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung, die objektiv bedingte gegenseitige Abhängigkeit, der Wille der Völker und die internationale öffentliche Meinung gehören ; um solche soziologische Fragestellungen theoretisch zu bewältigen, bedarf es der Erarbeitung einer Völkerrechtssoziologie ; Staatsinteresse und Staatswille werden außerdem von sozialpsychologischen Faktoren beeinflusst wie die Psychologie der Klassen, der gewachsene Selbsterhaltungstrieb der Menschen angesichts der Gefahr eines thermonuklearen Infernos und das notwendig gewordene Klima des Vertrauens ; die Konstruktion eines Sonder-Überbaus in den internationalen Beziehungen ist weder materialistisch, noch dialektisch, sondern sie mutet eher metaphysisch und mystisch an und ist auch deshalb für das Völkerrecht nicht hilfreich.
3b) RECHTSTHEORETISCHE ASPEKTE DES NORMENBILDUNGSPROZESSES
Die zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht (Landesrecht) ohne Zweifel vorhandenen Unterschiede vor allem bezüglich des Normenbegründungs- und Normverwirklichungsprozesses vermögen m.E. die Verwendung der allgemeinen rechtstheoretischen Erkenntnisse für die Zwecke der Völkerrechtstheorie und speziell einer modernen Normbildungstheorie nicht auszuschließen. Im Gegenteil ist das Zurückgreifen auf die allgemeine Rechtstheorie unverzichtbar und eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Abgesehen davon, stützen sich international die Völkerrechtler ebenfalls auf die verschiedenen rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Richtungen. Dies ist bei den IGH- und ILC-Mitgliedern ohne weiteres feststellbar. Die Verwertung der neuesten Erkenntnisse der allgemeinen Rechtstheorie soll natürlich zielgerichtet und selektiv erfolgen.
Im innerstaatlichen Normenbildungsprozeß beeinflusst die die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung ausdrückende objektive Realität über die subjektive Wahrnehmung, Erkenntnis und Bewertung den Normbildungsprozeß (26). In der objektiven Realität existieren die zu normierenden gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb des menschlichen Bewusstseins und stellen damit einen außerrechtlichen Sachverhalt dar. (27) Dabei existiert der Regelungsgegenstand als die materielle Grundlage
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6. Vgl. R. O. Chalfina, Die objektiven Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung, ihre Erkenntnis und Bewertung im Rechtschöpfungsprozeß, in : K. A.
Mollnau (Hrsg.), Komponenten der Rechtsbildung und ihr Einfluß auf die gesellschaftliche Wirksamkeit des Rechts, Berlin 1980, S. 35.
27. Vgl. K. A. Mollnau, Wie relevant ist der rechtliche Regelungsgegenstand im sozialistischen Rechtsbildungsprozeß ?
—Thesen, in: ebenda, S. 22 und Marxistich—leninistische Staats-und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 474.
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der normierungsbedürftigen gesellschaftlichen Verhältnisse „weder als besonderer Ausschnitt im gesellschaftlichen Sein, noch ist er auffindbar irgendwo anders in der Gesellschaft als deren separates Segment. Verwoben mit der Gesellschaft und all ihren Teilen, ist der Rechtliche Regelungsgegenstand eingebettet in die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen.” (28) Gerade diese Komplexität und Dynamik des Regelungsgegenstandes machen das Erkennen der Regelungsnotwendigkeit, -Würdigkeit und -möglichkeit schwierig.
Auf alle Fälle darf von der Existenz eines Normierungsgegenstandes nicht auf das Bestehen entsprechender Normen geschlossen werden, (29), denn „rechtliche Regelungsnotwendigkeit und rechtliches Geregeltsein gesellschaftlicher Verhältnisse sind zwei verschiedene Dinge.”(30 ) Die Transformation von Aussagen über die rechtliche Regelungsnotwendigkeit in Rechtsnormen setzt außerdem mehrere Zwischenstufen voraus, die nicht ohne weiteres übersprungen werden können, zumal der Rechtserzeugungsprozeß ein mehrdimensionaler Vorgang ist, an dem eine Vielzahl sozialer Faktoren und Determinanten materieller und ideeller, objektiver und subjektiver, politischer, ökonomischer, ideologischer, kultureller, (31) religiöser und anderer Art beteiligt ist. Dabei besitzen die materiellen Determinanten gegenüber den ideellen Priorität. Besonders erwähnenswert scheint bei den ideologischen und ideellen Faktoren das Rechtsbewusstsein zu sein. Dieses existiert hauptsächlich in Gestalt von Rechtsanschauungen und rechtspolitischen Forderungen und widerspiegelt die „rechtsnormative Regelungsbedürftigkeit, -fähigkeit und -würdigkeit” gesellschaftlicher Verhältnisse.
Philosophisch betrachtet, ist das Rechtsbewusstsein ideelles Abbild zu normierender oder aber auch rechtlich Normierter Interessen. (32)
Das Rechtsbewusstsein übt im Normenbildungsprozeß folgende Funktionen aus ;
a) Die kognitive Funktion : Sie trägt zum Erkennen der rechtlichen Normierungsnotwendigkeit gesellschaftlicher I Verhältnisse bei. Es werden somit Erfordernisse und Interessen erfaßt ; b) Die axiologische Funktion : Sie bewertet die rechtliche Normierungsnotwendigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und die Realisierungsmöglichkeit ; c) Die normierende Funktion : Sie besteht darin, dass Aussagen und Rechtsforderungen in Rechtsnormen transformiert werden. Sie ist im Grunde die Wirkungsrichtung des Rechtsbewusstseins im Normenbildungsprozeß. (33)
Das Rechtsbewusstsein wiederum ist von seinem materiellen Widerspielungsgegenstand abhängig, wobei diese Abhängigkeit vermittelt erfolgt. Sein Inhalt wird beeinflusst von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, darunter von den politischen Lebenverhältnissen, von der Tradition, der Kultur etc. (34 ) Das Rechtsbewusstsein spielt zwar beim Rechtsbildungsprozeß mittelbar eine wichtige Rolle, sollte jedoch in den Rechtsbegriff nicht einbezogen
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28. K. A. Mollnau, ebenda, S.14.
2.9. Vgl. derselbe, Rechtliches Regelungsobjekt und gesetzgeberische Entscheidung, in: K. A. Mollnau (Hrsg.), Probleme einer Rechtsbildungstheorie, Berlin 1982, S. 32.
30. Derselbe, Implikationen des gesellschaftlichen Ansatzes zur Erforschung der Rechtsbildung, in: ebenda, S. 18.
31. Vgl. ebenda, S. 14. Derselbe, Einleitung zu : Probleme einer Rechtsbildungstheorie, Berlin 1982, S. 10.
32. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 469—473.
33. Vgl. ebenda. S. 484—486.
34. Vgl. auch E. W. Nasarenko, Sozialistisches Rechtsbewusstsein und Rechtsschöpfung, Berlin 1974,S. 20.
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werden, weil sonst die Gefahr bestünde, die Rechtsordnung nur auf der Grundlage von Rechtsanschauungen (35) und rechtspolitischen Forderungen zu gestalten. Hieraus ergibt sich fast automatisch die Unterscheidung von Rechtsprinzipien und Prinzipien des Rechtsbewusstseins. Letztere bilden sich vor dem Rechtsbildungsprozeß heraus. (36 ) Um die der gesellschaftlichen Notwendigkeit inhärenten rechtlichen Möglichkeit in Recht als System von Rechtsnormen zu verwandeln, (37) bedarf es der tatsächlichen Beherrschung der gesellschaftlichen Prozesse. Dies setzt voraus, dass die real verlaufenden Prozesse in der Gesellschaft auf rechtlich normierungsbedürftige Beziehungen hin analysiert werden, denn die „Untersuchung des rechtlichen Regelungsobjekts, seiner Struktur und Entwicklung ist der Ausgangspunkt und der weltanschauliche Eckpfeiler einer materialistisch fundierten Rechtsbildungstheorie und Gesetzgebungsmethodik. Wer dies nicht beachtet, lässt sich darauf ein, das Abbild vom Abgebildeten zu trennen.”(38)
Erst die genaue Kenntnis des Normierungsgegenstandes kann die Garantie dafür bieten, dass das Recht dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entspricht.(39) Kriterium für diese Adäquatheit des Rechts ist die gesellschaftliche Praxis. (40 )Es ist aber darauf hinzuweisen, dass das Recht die gesellschaftliche Praxis und Realität nur partiell widerspiegelt, d.h. es werden nur jene Seitenwiderspiegelt, an deren Regelung die herrschende Klasse interessiert ist.(41 )
Gegenstand der rechtlichen Widerspiegelung sind „alle jene Erscheinungen, die im Recht eine Widerspiegelung Erfahren haben oder erfahren werden, alles das, was Rechtsnormen wirklich oder potentiell abgebildet wird.”(42) Das Wesen der rechtlichen Widerspiegelung liegt in der rationalen Reproduktion von gesellschaftlichen Bedingungen sowie „von entsprechenden erlaubten,gebotenen oder verbotenen Verhaltensweisen, die im Klasseninteresse verbindlich sind.”(43) Die rechtliche Widerspiegelung ist volitiver Natur, denn sie bringt den durch die Klasseninteressen bedingten Staatswillen in Rechtsnormen zum Ausdruck.
Sie besitzt ferner eine wertmäßige Komponente, weil der Normeninhalt unter Zugrundelegung gesellschaftlicher Werte ausgewählt wird.
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35. Dieser von I. Wagner vertretenen Auffassung ist vorbehaltlos zu folgen. Vgl. I. Wagner, Sozialistisches Recht und juristischer Überbau, Thesen, Leipzig 1982, S.3.
36. Vgl. W. Grahn, Theoretische Probleme der rechtlichen Widerspiegelung und ihrer Bedeutung—weltanschauliche, erkenntnistheoretisch-methodologische und rechtstheoretische Probleme (Thesen), in: I. Wagner (Hrsg.), Das Recht als Widerspiegelung, Leipzig 1979, S.12.
37. Vgl. I. Wagner, Recht und Widersprüche in der enwickelten sozialitischen Gesellschaft, a. a. O., S. 718. 58.
38. K. A. Mollnau, Einleitung zu : Probleme einer Rechtsbildungstheorie, a.a.O.,S.7—8.
39. Vgl. K.A. Mollnau, Rechtsnormen und Rechtsbewusstsein im Wirkungsprozeß des sozialistischen Rechts, in : K. A. Mollnau (Hrsg.), Objektive Gesetze, Recht, Handeln— Studien zu einer Wirkungstheorie des sozialistischen Rechts, Berlin 1979,S.79ff.
40. Vgl. W. Grahn, Theoretische Probleme der rechtlichen Widerspiegelung …, a.a.O.,S.10.
41. Vgl. H. Klenner, Der Marxismus—Leninismus über das Wesen des Rechts, Berlin 1974, S.110.
42. W. Grahn, Theoretische Probleme der rechtlichen Widerspiegelung…, a.a.O.,S.5.
43. W. Grahn, Widerspiegelungsprobleme in der Rechsbildung, in : K. A. Mollnau (Hrsg.), Komponenten der Rechtsbildung und ihr Einfluß auf die gesellschaftliche Wirksamkeit des sozialistischen Rechts, Berlin 1980, S. 125.
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wird, die wiederum durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Klasseninteressen bedingt sind, und weil auch Moral, Religion, Tradition und öffentliche Meinung in gewisser Hinsicht in das Recht eingehen.Für die Normbildungstheorie dürften die bemerkenswerten Gedankengänge Werner Grahns von großer Bedeutung sein: Die rechtswissenschaftliche Widerspiegelung „hat auch eine theoretische Widerspiegelung der rechtlichen Widerspiegelung zu sein und besitzt demnach den Charakter einer Meta-Widerspiegelung”.(44)
Die völkerrechtswissenscfiaftliche Widerspiegelung ist insofern diffizil, weil aus politischen und auch aus rechtsdogmatischen Gründen eine subjektiv gefärbte Meinungsvielfalt möglich ist. Eine verzerrte Meta-Widerspiegelung vermag jedoch keinesfalls, Wesen und Charakter des Rechts zu verändern, das nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtstheorie folgende wesentliche Merkmale aufzuweisen hat :
a) Es bringt die Interessen und den Willen der herrschenden Klasse zum Ausdruck, dessen Inhalt letztlich von deren materiellen Lebensbedingungen determiniert wird ;
b) Es ist ein System von allgemeinverbindlichen Normen, von Verhaltensregeln ;
c) Das Recht ist Regulator der gesellschaftlichen Verhältnisse ;
d) Im Falle seiner Verletzung kann es durch Zwang gewährleistet werden.(43)
Ein konkretes juristisches Recht besitzt die Eigenart, eine staatlich garantierte und geschützte konkrete Verhaltensmöglichkeit eines Berechtigten zu sein.
Der Berechtigte kann dann im Rahmen des von den Rechtsnormen eingeräumten Entscheidungsfeldes eigenverantwortlich über das konkrete Recht entscheiden.(46)
In der Rechtstheorie wird über den Umfang des Rechtsbegriffs ein Meinungsstreit geführt. Hier wird der erweiterte Rechtsbegriff— er erstreckt sich auf die Rechtsnormen, die Rechtspolitik, die Rechtsprinzipien, die Anwendung, die Einhaltung und soll nicht nur eine juristische, sondern auch eine politische, ökonomische, ethische, kulturelle und psychologische Erscheinung sein. (47)— abgelehnt. Es ist vielmehr den Auffassungen über den „engen” Rechtsbegriff beizupflichten, da sie das Recht, als normatives System betrachten, das aber allgemein in der objektiven Realität wurzelt. Insofern schließt das Recht Soziales, Politisches, Ideologisches, Psychologisches, (48) Ethisches, Religiöses etc. ein.
Hinsichtlich seines Geneseprozesses und seiner Bedeutung kann man das Recht dennoch als Wert betrachten, ohne abstrakt den ethisieren und den Boden der Normativität verlassen zu wollen, (49) weil der Wert zwar etwas Ideelles, jedoch sein Inhalt
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44. Vgl. W.Grahn, Theoretische Probleme der rechtlichen Widerspiegelung…, a. a. O.,S. 7—8
45. Vgl. Marxistisch—leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1 (Grundlegende Institute und Begriffe), Berlin 1974, S.273; Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 108,521.
46. Vgl. ebenda,S. 589.
47. Für den erweiterten Rechtsbegriff plädiert D.A.Kerimow,Verfassung der UdSSR und politisch-rechtliche Theorie, Berlin 1981,S. 152, 156. Für einen komplexen Rechtsbegriff—er soll den Gedanken der juristischen Ordnung sowie jenen der sozialen Organisation umfassen—tritt Ch. Rousseau ebenfalls ein. Vgl. Droit International Public, Tome I,Paris1970, p.24.
48. So I.Wagner, Sozialistisches Recht und juristischer Uberbau, Zur Rechtskonzeption des entwickelten Sozialismus, a.a.O.,S.7—8.
49. Diesbezüglich kann der Kritik von K.A.Mollnau am abstrakten ethisieren zugestimmt werden :„Wo mit dem Wertbegriff rechtliche Phänomene als selbständige Wesenheiten vorgeführt und Werte als Instanzen ausgegeben werden, die Grundlage, Ausgangspunkt und Orientierung für das Recht sein sollen, dort wird die gesellschaftstheoretische Erklärung des Rechts verlassen und mit seiner moralisierenden Verklärung begonnen.” Einleitung zu : Probleme einer Rechtsbildungstheorie, a. a. O., S. 10.
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durch die Bedürfnisse und Interessen der betroffenen Subjekte bedingt wird und damit objektiver Natur ist. Die Bedeutsamkeit der in Frage kommenden Objekte für die Interessenbefriedigung „kann in Werten als Prinzipien oder als Werturteile abgebildet werden”(50) das Recht erheblich beeinflussen und in gewisser Hinsicht in dieses einfließen. Insofern kann das Recht als Wert, (51) vielleicht sogar als einer der höchsten Werte der menschlichen Kultur (52) betrachtet werden.
Eines der erwähnten wesentlichen Merkmale des Rechts besteht darin, ein System von allgemein-verbindlichen Normen, von Verhaltensregeln zu sein. Hinsichtlich dieses Rechtsmerkmals stützt sich die sozialistische Rechtstheorie auf Karl Marx, der in der „Kritik des Gothaer Programms” schreibt: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen.”(53) Das bedeutet, dass das Recht Grenzen des Verhaltens setzt und damit allgemeinverbindlich vorschreibt, was erlaubt, geboten oder verboten ist. Allgemeinverbindlich sein, heißt aber, „ungleiche, aber gleichartige Handlungen mit dem gleichen Maßstab” messen. (54)
Die Dialektik dieser Problemstellung wurde von R. Schüsseler am besten erfasst und am überzeugendsten dargestellt : „Soweit die Subjekte als Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und Interessen gleiche oder korrespondierende Eigenschaften aufweisen und in dieser Beziehung einer einheitlichen Verhaltensbestimmung und -beurteilung unterliegen müssen, gelten für sie jeweils gleiche Rechte und Pflichten , wird ihr Tun oder Unterlassen an einem Rechtsmaßstab gemessen, der für alle gleichartigen Sachverhalte verbindlich ist.
Unter dem für juristisch relevant erklärten Gesichtspunkt bringt ein Rechtsmaßstab für jede Verhaltensmöglichkeit des einen korrespondierende Verhaltensanforderungen an andere Rechtssubjekte zur Geltung, verlangt er für jede Leistung eine gleichwertig Gegenleistung. Er wahrt die Unverbrüchlichkeit dieses Verhaltens und enthält für pflichtwidrige Aktionen eine adäquate Reaktion.” (55)
Das Recht hat als „staatlich-verbindlicher gleicher Verhaltensmaßstab”(56) eine Reihe von Funktionen zu erfüllen wie :
a) Es werden Ziele sozialen Verhaltens gesetzt (zielsetzende Funktion) ;
b) Das gesollte Verhalten wird durch Gebote, Verbote und Erlaubnis direkt vorgeschrieben (regulierende Funktion) ;
c) das Recht bewertet soziales Verhalten (bewertende Funktion) ;
d) Es verknüpft das gesollte und nichtgesollte soziale Verhalten mit Sanktionen (Zwangsfunktion). (57)
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50. Vgl. hierzu die sehr überzeugende Argumentation W. Grahns, Die Rechtsnorm— eine Studie, Leipzig, 1979, S. 101, 103.
51. Vgl. auch I. Wagner, Sozialistisches Recht und juristischer Überbau, Zur Rechtskonzeption des Sozialismus, a. a. O., S. 8.
52. Vgl. E. A. Lukaschewa, Übe die neuen Richtungen der wissenschaftlichen Untersuchungen in der allgemeinen Theorie des Rechts, in : Aktuelle Probleme der Theorie des sozialistischen Staates und Rechts, Moskau 1974, S. 34 ff.
53. Karl Marx Kritik des Gothaer Programms in : K.Marx—F. Engels, Werke, Band 19,S.21. 54.
54. Vgl. H. Klenner, Der Marxismus—Leninismus über das Wesen des Rechts, Berlin1954, S. 73.
55. R. Schüsseler, Zu den Grundfragen der Theorie des sozialistischen Rechts in Marx’ „Kritik des Gothaer Programms” in: Staat und Recht, Nr.5, Berlin 1975,S.21. 56.
56. .Wagner, Sozialistisches Recht und juristischer Überbau, Zur Rechtskonzeption des entwickelten Sozialismus, a. a. O., S.9. 57
57. Vgl. W. Grahn, Die Rechtsnorm, a. a. O.,S.11—15.
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Hieraus ergibt sich, dass das Recht über das Verhalten auf die sozialen Bedingungen einwirkt. (58) Somit macht m. E. das normgerechte Verhalten aller Normadressaten das Wesen der Allgemeinverbindlichkeit des Rechts aus. Diese dialektische Verknüpfung von Recht und Verhalten berechtigt daher zu der Feststellung, dass das Recht „das in der Gesellschaft herrschende Ordnungsgefüge und Verhaltensmuster” darstellt. (59) Das reale Verhalten der Rechtssubjekte wird aber von mehreren objektiven Faktoren bedingt, wozu u.a. Bräuche, Traditionen, Sitten etc. gehören.( 60 ) Das Verhalten der Normadressaten ist Inhalt der Rechtsverhältnisse, (61) die wiederum die Hauptbeziehungen sind, in denen die Rechtsnormen verwirklicht werden.
In diesem Kontext besteht das Spezifikum der Rechtsverhältnisse darin, dass die an ihnen beteiligte Rechtssubjekte wechselseitig konkrete Rechte und Pflichten haben, die sich durch ihr Verhalten realisieren. Das Rechtsverhältnis ist nicht identisch mit dem faktischen Gesellschaftlichen Verhältnis und steht damit nicht alsKonkretisierungsstufe der Verhaltensmöglichkeit zwischen den Rechtsnormen und dem faktischen Verhältnis. Hieraus folgt, dass das Rechtsverhältnis nur bestimmte Seiten des realen gesellschaftlichen Verhältnisses in juristischer Form zum Ausdruck bringt.
Das gesellschaftliche Verhältnis besteht also vor und nach der Schaffung des Rechtsverhältnisses. Da nun Rechtsverhältnisse der politisch-moralischen Bewertung unterliegen, bringen sie auch politisch-moralische Wertvorstellungen zum Ausdruck. (62 )
Die für die Erarbeitung einer Normenbildungstheorie in den internationalen Beziehungen und speziell im Völkerrecht notwendigen und geeigneten Erkenntnisse der Rechtstheorie seien zusammengefasst : Der innerstaatliche Normenbildungsprozeß wird von der objektiven Realität über die subjektive Wahrnehmung, Erkenntnis und Bewertung beeinflusst ; der Normierungsgegenstand ist in die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet ; die Existenz eines Normierungsgegenstandes sowie dessen Normierungsnotwendigkeit,-würdigkeit und-möglichkeit kann nicht bedeuten, dass enstprechende Normen bereits existieren ; der Normbildungsprozeß ist ein mehrdimensionaler Vorgang, denn an ihm sind verschiedene Faktoren (materielle und ideelle, objektive und subjektive, politische, ökonomische, ideologische, kulturelle, ethische, religiöse etc.) beteiligt, wobei den materiellen Faktoren der Vorrang gebührt ; das zu den ideologischen und ideellen Determinanten gehörende Rechtsbewusstsein existiert in Gestalt von
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58. Vgl .W. Grahn, Widerspiegelungsprobleme in der Rechtsbildung, a.a.O., S.130.
59. H. Klenner, Grundsatzprobleme im Vorfeld einer Rechtsbidungstheorie, in : K. A. Mollnau (Hrsg.), Probleme einer Rechtsbildungstheorie, Berlin 1982, S.21.
60. Vgl. auch R. O. Chalfina, Die objektiven Faktoren, in : K.A.Mollnau (Hrsg.), Komponenten der Rechtsbildung und ihr Einfluß auf die gesellschaftliche
Wirksamkeit des sozialistischen Rechts, Berlin 1980,S. 37.
61. Vgl. Marxistisch—leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1,Berlin 1974, S. 393.
62. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 587, 581—582. In der Rechtstheorie der UdSSR ist eine Wandlung der Auffassungen zu beobachten. Hierüber informiert U. E. Tkatschenko relativ ausführlich. Er berichtet darüber, dass die sowjetischen Rechtstheoretiker früher das Rechtsverhältnis als ein durch Rechtsnormen geregeltes gesellschaftliches Verhältnis betrachteten. Jetzt würden sie aber das Rechtsverhältnis als Verbindung zwischen den Subjekten durch Rechte und Pflichten ansehen.
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63. Vgl. Metodologitscheskije woprossy teorii prawootnoschenij, Moskwa 1980,S. 94ff.
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M. E. steht einer Verbindung beider Konzeptionen nichts entgegen. Rechtsanschauungen und rechtspolitischen Forderungen und widerspiegelt Klasseninteressen sowie die Regelungsbedürftigkeit, -fähigkeit und – würdigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ; das Rechtsbewusstsein hat eine kognitive, axiologische und normierungsbeeinflussende Funktion ; es gilt, zwischen den Prinzipien des Rechstbewusstseins und den Rechtsprinzipien zu unterscheiden ; die Normadäquatheit setzt die Beherschung der normierungsbedürftige gesellschaftlichen Beziehungen voraus ; die rechtliche Widerspiegelung ist partieller, volitiver und axiologischer Natur ; die Rechtswissenschaftliche Widerspielung der rechtlichen Widerspiegelung ist eigentlich eine Meta-Widerspiegelung, sie kann verzerrt und falsch sein ; die wichtigsten Merkmale des Rechts sind : Ausdrücken der„letztlich” materiell determinierten Interessen und des Willens der herrschenden Klasse ; es ist ein System von allgemeinverbindlichen Normen (Verhaltensregeln), d.h. das Recht schreibt allgemein-verbindlich vor, was erlaubt, geboten oder verboten ist, misst ungleiche aber gleichartige Handlungen mit gleichem Maß, schafft gleiche Rechte und Pflichten für die Rechtssubjekte, ist damit allgemein-verbindlicher Maßstab für alle Normadressaten und fordert für jede Leistung eine gleichwertige Gegenleistung; es ist Regulator gesellschaftlicher Verhältnisse und schließlich kann im Falle der Verletzung durch Zwang gewährleist werden; der „enge” Rechtsbegriff ist vorzuziehen, weil er die Normativität am prägnantesten zum Ausdruck bringt, zugleich ist darauf hinzuweisen, dass der „enge” Rechtsbegriff in gewisser Hinsicht in der objektiven Realität wurzelt und damit Soziales, Politisches, Ideologisches, Psychologisches, Ethisches, Religiöses etc. einschließt ; das Recht kann als Wert betrachtet werden ; das Recht hat eine zielsetzende, verhaltensorientierende, regulierende, bewertende und eine Zwangsunktion und kann als „Ordnungsgefüge und Verhaltensmuster” angesehen werden ; die Rechtsverhältnisse haben das Verhalten der Normadressaten zum Inhalt, sind die Hauptform der Rechtsnormenverwirklichung und beziehen sich auf Rechte und Pflichten der Rechtssubjekte ; die Rechtsverhältnisse unterliegen der politisch-moralischen Bewertung und bringen insofern politisch-moralische Wertvorstellungen zum Ausdruck.
3c) VÖLKERRECHTSTHEORETISCHE GRUNDFRAGEN DES
NORMENBILDUNGSPROZESSES
3ca) Die Bedeutung der Staatsinteressen und des Staatswillens für den Normenbildungsprozeß
Die Staaten als„die historisch entstandene, sich geschichtlich entwickelnde und vergängliche, aus der Gesellschaft herausgelöste und durch ihre ökonomische Ordnung bedingte, souveräne politische Macht der herrschenden Klasse, die die gemeinsamen Interessen der Eigentümer der grundlegenden Produktionsmittel sichert, vertritt und durchsetzt”, (63) schaffen und verwirklichen das Völkerrecht. Sie lassen sich dabei von ihren in den eigenen Bedürfnissen wurzelnden Interessen leiten, die polydimensional und multisynthetisch sind, denn sie werden von innerstaatlichen Determinanten, durch das gesellschaftliche Sein als die Gesamtheit der materiellen Lebens- bzw. Existenzbedingungen (Basis, Produktivkräfte, Größe und Fruchtbarkeit des Territoriums, Naturreichtümer,
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63. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie,Berlin1980, S. 95.
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gesellschaftlich relevante geographische Lage und klimatische Bedingungen, Dichte der Bevölkerung etc., ferner durch die eigenen Überbauerscheinungen) und von Determinanten in den internationalen Beziehungen(internationales Kräftverhältnis, Bündnisverpflichtungen, globale Probleme der Menschheitsentwicklung, objektiv bedingte gegenseitige Abhängigkeit, Wille der Völker, internationale Öffentliche Meinung) sowie von sozialpsychologischen Faktoren (Psychologie der Klassen, gewachsener Selbsterhaltungstrieb angesichts der Gefahr eines Kernwaffenkrieges und notwendig gewordenes Klima des Vertrauens) beeinflusst.
Die Interessen besitzen unabhängig von ihrem Träger und vom Bezugsobjekt objektiven Charakter. So entspricht die Friedenssicherung den objektiven Interessen aller Völker. Da jedoch die Interessen eine Vermittlung zwischen dem Materiellen und dem Ideellen (Motive, Absichten,Wünsche etc.) darstellen und letztere auf die Gerichtetheit der Tätigkeit im Sinne der Interessenrealisierung zielsetzend, mobilisierend und organisierend, einwirken, kann man auch von subjektiven Interessen sprechen. (64) Die grundlegenden Klasseninteressen bestimmen ihrerseits Wesen und Charakter der wichtigsten Klassenziele bzw. Klassenaufgaben. (65)
Für die internationalen Beziehungen ist ausschlaggebend, dass speziell die jungen Nationalstaaten selbstverständlich von ihren Bedürfnissen ausgehend, die Beseitigung der Überreste des Kolonialismus und die Lösung der akuten sozialen und ökonomischen Probleme als ihre Hauptaufgabe betrachten. Hierauf beziehen sich ihre innen- und außenpolitischen Interessen. (66)
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64. Vgl. in: Philosophisches Wörterbuch(Hrsg. G. Klaus—M. Buhr), Band1, Leipzig 1974, S. 583.
65. Vgl. hierzu ausführlicher P. Terz, Das Problem der Interessen in den zwischenstaatlichen Vertragsbeziehungen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karx-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Nr. 1, Leipzig, 1978, S. 37 ff.
66. Vgl. hierzu ausführlicher P. Terz, Problematyka interesow i woli w stosunkach traktatowych wynikajacych z koegzystencji orazw stosunkach miedzypanstwami wspolnoty socjalistycznej, in : Przeglad Stosunkow Miedzynarodowych, Nr. 2, Opole 1978, S. 121 ff.
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Somit treffen sich in den internationalen Beziehungen der Gegenwart Interessen der drei wichtigsten Staatengruppen. Es kommt nun darauf an, einen Interessenausgleich zu erreichen. Er ist nur auf der Grundlage von gegenseitigen Kompromissen möglich. Der Interessenausgleich erfolgt aus globaler Sicht also nicht mehr zwei-, sondern dreigliedrig.
Die Interessen bestimmen das Handeln der Individuen, der Völker, der Staaten und der Staatengruppen. „Stets waren und sind es die Interessen, die das praktische Handeln leiten und die ökonomische mit der politischen Sphäre der Gesellschaft verknüpfen. Den letztlich treibenden Faktor des geschichtlichen Handelns bilden die ökonomischen Interessen,…” (67) In den internationalen Beziehungen geht es letzten Endes um die Durchsetzung der staatlichen Interessen. (68) Hierbei gilt es, einige Bedingungen zu erfüllen bzw. einige Aspekte zu beachten : keine Gefährdung des Weltfriedens, im Gegenteil Interessen -Verwirklichung zur Friedenssicherung; keine Verletzung der Prinzipien, vor allem der Grundprinzipien und der Normen des Völkerrechts ; keine Verletzung grundlegender und legitimer (völkerrechtsgemäßer) Interessen der anderen Staaten. Letzteres besonders zu betonen, ist insofern erforderlich, weil in der Fachliteratur mitunter nur die Interessendurchsetzung des einzelnen Staates und nicht der Staaten in ihren Beziehungen und ihremVerhalten zueinander gesehen wird. Wird noch dazu das Interesse als Vorteil (Profit, Nutzen) (69) aufgefasst, dann muss man darin Tendenzen der Überbewertung der Staatinteressen auf Kosten des Völkerrechts erblicken.
Da jedoch in den internationalen Beziehungen Interessenkollisionen m. E. als eine normale Erscheinung zu betrachten sind, kommt nur ein Interessenausgleich in Frage, der auf der Basis entsprechender Normen erzielt werden kann. (70)
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67. G. Stiehler, Ökonomie-Staat-Recht als dialektisches Verhältnis, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr.10, Berlin 1982, S. 1242.
68. Vgl. hierzu auch: A. A. Jessajan, K. woprossu o Charaktere meshdunarodnogo prawa, in: Sowjetskij jeshegodnik meshdunarodnogo prawa 1958, Moskwa 1959, S. 501, der in den völkerrechlichen Abmachungen die gegenseitige Anerkennung der Interessen erblickt ; W. Wengler, Der Begriff des Politischen im internationalen Recht, in Staat und Recht, Nr. 189-190, Tübingen 1956, S. 32—35.Er untersucht die entscheidende Rolle der Staatsinteressen auf der III.-UNO-Seerechtskonferenz ; derselbe, Prolegomena zur einer Lehre von den Interessen im Völkerrecht, in: Die Friedenwarte, Band 50, Nr. 2, 1950, S. 108(der Gestaltung jedes Rechtssatzes liegen menschliche Interessen zugrunde) ; A. P. Sereni, Diritto Internazionale, II. (Organizzazione Internazionale), Milano1960, p. 172 (Befriedigung der gegenseitigen Interessen) ; O Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten, Leipzig 1907 (Schutz gemeinsamer Interessen der Staaten als Aufgabe des Völkerrechts H. Kraus, Staatinteressen im internationalen Leben, in : Internationale Gegenwartsfragen, Völkerrecht — Staatenethik — Internationalpolitik, Ausgewählte kleine Schriften von H. Kraus, Würzburg1963, S. 4, 346, (die Nichtbefriedigung wichtiger Interessen führt zu internationalen Reibungen); G. Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova1963, p. 1 ff. (dem zwischenstaatlichenVerkehr liegen die Staatsinteressen zugrunde) ; G. Balladore Pallieri, Diritto Internazionale Pubblico, Milano 1962, p. 35 (die internationale Ordnung dient der Interessenbefriedigung aller Staaten).
69. So z. B. M. Bos, Will and order in the nation-state system, Observations on Positivism and Positive International Law, in : Netherlands International Law Review, Vol. XXIX, Iss.1, Leiden1982, p.13.
70. Vgl. in diesem Sinne auch H. Lauterpacht, Privat Law sources and analogies of International Law, London 1927, p. 81 ; A. Verdross—B. Simma ,Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, Berlin1976, S. 656 ; L.Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht — Kritische Betrachtungen über die Grundlagen des Staats- und Völkerrechts …, Hamburg 1949 )1. Afl. 1917), S.178.
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Dies entspräche allerdings nicht den Realitäten in den internationalen Beziehungen der Gegenwart, wollte man im Grunde nur kollidierenden Interessen die Normierungswürdigkeit zuerkennen. (71) Die Interessen sind die Grundlage des Willens und prägen ihn. (72) Es ist ferner eine unbestrittene Erkenntnis der Staats- und Rechtstheorie, dass der Staatswille die Grundinteressen der herrschenden Klasse zum Ausdruck bringt. (73)
Wird das Verhältnis von Interesse und Wille dialektisch betrachtet, so können im innerstaatlichen Normierungsprozeß die Interessen als die objektive, der Wille hingegen als die subjektive Seite des Prozesses betrachtet werden, weil sich nur im Prozeß der Erkenntnis der Klasseninteressen der Klassenwille entwickelt. (74) Der Wille stützt sich darüber hinaus auf das Rechtsbewusstsein der herrschenden Klasse (75) und wird in Rechstnormen umgesetzt, (76) d. h. als allgemeine Verhaltensmöglichkeit und -aufforderung formuliert.(77) Somit äußert sich in der Herbeiführung allgemeinverbindlicher Verhaltensweisen die Willensnatur des Rechts. Dabei erfasst der Willensbegriff im Rahmen des Normbildungsprozesses Erkenntnis, Entscheidung und Handeln in ihrer Einheit.(78 )
Im Unterschied davon kann jedoch in den internationalen Beziehungen nicht auf den Willen der einzelnen Staaten orientiert werden. (79) Vielmehr geht es hier darum, dass die Normen das Produkt des Willens mehrerer Staaten sind. ( 80)
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71. So z. B. H Kröger—H. Wünsche, Friedliche Koexistenz und Völkerrecht, Berlin 1975, S. 53—54. Nach der Auffassung von G. Morelli hingegen ist der Interessenkonflikt eine Möglichkeit für den Regelungsprozeß. Vgl. Nozioni di diritto internazionale, Padova1963, p. 48—49. H. Triepel sprach von der Befriedigung entgegengesetzter Interessen bei den „Verträgen” und gemeinsamer oder gleicher Interessen bei der„Vereinbarung”. Vgl. Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. 53. Der von G. Dahm, Völkerrecht, Band III, Stuttgart 1961, S. 9 an dieser nicht überzeugenden Unterscheidung geübten Kritik ist zu folgen.
72. Vgl. H.-G. Eschke, Friedrich Engels über das Verhältnis von Gesamtwillen und Einzelwillen in der Gesellschaft, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 10, Berlin1970, S. 1217.
73. Vgl. .T Schönrath, Nochmals zum Verhältnis von juristischen Rechten und von Rechtsnormen, juristisch konkreten Rechten und der Tätigkeit, in : I. Wagner(Hrsg.), Zum subjektiven Recht im Sozialismus, Leipzig1978, S. 151 ff.
74. Vgl. Marxistisch—leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band1, Berlin1974, S. 271.
75. Vgl. ebenda.
76. Vgl. T. Schönrath, Juristische Rechte, Juristische Rechte und Pflichten und Demokratie im Sozialismus (Thesen), in : I. Wagner (Hrsg.), Zum subjektiven Recht…, a. a. O., S. 36.
77. Vgl. T. Schönrath, Nochmals zum Verhältnis von juristischen Rechten…,a.a.O., S.151 ff.
78 Vgl. W. Grahn, Recht als eine besondere Widerspiegelung der Gesellschaft, in : Staat und Recht, Nr. 2, Berlin1982, S. 165.
79. Nach E. Kaufman seien „der Wille und die Interessen der Staaten alleiniger Ursprung und Geltungsgrund des Völkerrechts”. Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus, Tübingen 1911, S.58. Der Wille der einzelnen Staaten wird von J. Buchmann, A la recherce d’un Ordre International, Paris 1957, p. 133, ebenfalls überbewertet. Genau der entgegengesetzten Auffassung ist T. Gihl : Der Staatswille sei nicht die Grundlage des Völkerrechts ; man sollte sich eher nach dem Verhalten der Staaten richten. Vgl. The legal Charakter and Sources of international Law, in : Scandinavian Studies in Law, Vol. I ,Uppsala 1957, p. 51.
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3cb) Der konsensuale Charakter des Normenbildungsprozesses
Faktoren, die innerhalb eines Staates sowie in den internationalen Beziehung wurzeln und die sich durch eine hohe Komplexität auszeichnen, zwingen die souveränen Staaten, miteinander in Beziehung zu treten und gemeinsam ihr Verhalten zu regeln.
Im Rahmen des Prozesses von Auseinandersetzung und Zusammenarbeit koordinieren sie die Interessen und schaffen gemeinsam allgemeinverbindliche Verhaltensregeln. Die unabdingbare Voraussetzung hierfür ist der Consensus (Konsens ), (81) der Staaten, sonst gäbe es die Gefahr von Subordinationsbeziehungen. Der Staatenkonsensus entsteht jedoch nicht automatisch und stellt keinen einmaligen Akt dar. Er besitzt vielmehr eine hohe Prozesshaftigkeit. Hieraus leitet sich, wie noch im Einzelnen nachzuweisen ist, der konsensuale und dialektische Charakter des Normenbildungsprozesses— unter Zugrundelegung des Staatswillens handelt es sich um einen Willensbildungsprozeß— in den internationalen Beziehungen ab.
Der konsensuale und dialektische Willens- bzw. Normebildungsprozeß beginnt damit, dass einige oder mehrere Staaten gleichzeitig oder zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt zunächst bestimmte Gegenstände bzw.Probleme kognitiv erfassen. Es wird also zunächst (erste Phase) erkannt, dass bestimmte Probleme (z. B. die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung, bestimmte Fragen der internationalen Wirtschatfsbeziehungen) existieren. Hierüber entsteht allmählich und besteht ein allgemeiner Consensus (Consensus generalis) oder wenn er bei allen oder bei den meisten Staaten anzutreffen ist, ein Consensus omnium, wenn auch er von loser Natur ist. Bereits an der kognitiven Seite des Staatenconsensus beteiligen sich mehrere Determinanten (materielle und ideelle, ökonomische und ideologische, innerstaatliche und solche aus den internationalen Beziehungen) in ihrer Komplexität. Sie bedingen das Staatsinteresse.
Danach (zweite Phase) wird von einigen oder von mehreren Staaten natürlich aus ganz anderen Gründen— bei Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung können die Gründe mitunter von entgegengesetzter Natur sein— die Bedeutung des Problems erkannt. Hierüber können ebenfalls je nachdem ein Consensus generalis oder sogar ein Consensus omnium bestehen. (82) Der Bedeutungsgrad ist aber in erster Linie von der konkreten
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80. Vgl. auch D. Touret, Le principe de l’égalité souveraine des états ; fondement du droit international, in: Revue général de droit international public, No. 1, Paris 1978, p. 184.
81. Der Begriff Consensus wird im Sinne der Übereinstimmung, also als Konsens aufgefasst und verwendet. Vgl. L. Koep, Consensus, in : Reallexikon für Antike und Christentum, Band III. Stuttgart1957 S. 295 ; I. Stoer, Lexicon Iuridicum, M. D. XCINI, S. 267; R. Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, Erste Lieferung, München1927, S. 88 ; P. G. Osborn, A Concise Law Dictionary London1964, p. 83; teilweise auch A. D’Amato, On Consensus, in: The Canadian Yearbook of International Law, Vol. VIII, Vancouver1970, p. 107.
82. Nach M. I. Lasarew gibt es gegenwärtig eine übereinstimmende Auffassung darüber, dass die Menschen auf dem kleiner gewordenen Planeten Erde leben müssen. Vgl. Meschdunarodnoje prawo i nautschno-technitsheskaja revolucija, in Sowjetskij jeshegodnik meschdunarodnogo prawa1978 , Moskwa1980, S. 60. E. Glaser begründet den allgemeinen Consensus damit, dass die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung nicht nur bestimmte Staaten, sondern die Gemeinschaft der Staaten als Ganzes betreffen. Vgl. La place du consensus dans les relations internationales contemporaines, in: Revue roumaine d’études internationales, VII, No. 1, Bucuresti1973, p. 56. V. v. Dyke wiederum macht auf das Spannungsverhältnis von ideologischen Differenzen und Consensus aufmerksam. Vgl. International Politics, New York 1957, p. 309, 417.
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Interessenlage des jeweiligen Staates abhängig. So erkennen die Staaten, abgesehen von einigen kapitalistischen Mächten, die den Hochrüstungskurs forcieren, die Abrüstungsnotwendigkeit. aus weltanschaulichen, sozialökonomischen und sicherheitspolitischen Gründen betrachten die sozialistischen Staaten die Friedenssicherung und die Abrüstung als die dringendste Aufgabe der Gegenwart. Hauptsächlich aus sozialökonomischen Gründen entsteht bei den meisten Entwicklungsländern eine ähnliche Bewertungssituation. Sie verbinden dabei die Abrüstungsnotwendigkeit mit ihrer ökonomischen Entwicklung. Vor allem kleinere entwickelte kapitalistische Staaten erkennen teilweise ebenfalls die aus der Rüstungsforcierung erwachsenden Gefahren für die Menschheit.
In den70er Jahren wurde der Consensus zwischen den Hauptmächten der beiden Weltsysteme relativ oft und ziemlich konkret in gemeinsamen Dokumenten konstatiert. Im Artikel I des Abkommens zwischen der UdSSR und den USA über die Verhütung eines Nuklearkrieges vom 22. 6. 1976 z. B. heißt es : „Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika stimmen darin überein, dass das Ziel ihrer Politik die Verhütung der Gefahr eines Nuklearkrieges und der Anwendung von Kernwaffen ist.”(83) Bei einem weiteren Fall ist der Geltungsbereich des in diesem Stadium noch bedeutungsbezogenen Consensus ebenfalls eingeschränkt.
Ausgehend von ihren großen sozialen und politischen Problemen betrachten z. B. die meisten Entwicklungsländer die gegenwärtige internationale Wirtschaftsordnung für sie als unvorteilhaft und fordern mit Vehemenz die Schaffung einer „Neuen und gerechten internationalen Wirtschafsordnung”. Für sie besitzt diese Frage einen besonders hohen Stellenwert.
Aus anderen Motiven erkennen auch die sozialistischen Staaten die Bedeutung dieser Frage. Sie sind zwar bereit, die Entwicklungsländer zu unterstützen, wollen jedoch, dass bei der Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage der Völkerrechtsprinzipien keine Staatengruppe diskriminiert werden darf. (84)
Einzelne entwickelte kapitalistische Staaten erkennen allmählich aus ganz anderen Gründen und Motiven die wachsende Bedeutung einer „Neuen und gerechten internationalen Wirtschaftsordnung”.
Das Erfassen der in der objektiven Realität existierenden Probleme ist bezüglich ihrer Bedeutung mit einer Wertung verbunden, der in der materiellen Lebensbedingungen wurzelnden sowie im Überbau befindlichen Faktoren zugrunde liegen.
Über die Wahrnehmung, Erkenntnis und Bewertung der Probleme gelangen die Staaten zur Normierungsnotwendigkeit und -würdikeit (dritte Phase). Der Normierungsgegenstand existiert zwar unabhängig von den wahrnehmenden, erkennenden und wertenden Subjekten (Staaten), die Normierungsfrage ist jedoch stark subjektiv gefärbt, weil sie durch die materiell bedingte Vorstellungswelt der Staaten hindurch geht.
An diesem Prozeß beteiligen sich in verstärktem Maße solche Faktoren, wie das Gerechtigkeitsempfinden und das Rechtsbewusstsein. Erkennen mehrere Staaten die (83) Normierungsnotwendigkeit, -würdigkeit und -möglichkeit, so kann hierüber das Bestehen eines Consensus generalis und wenn dies bei der übergroßen Mehrheit der Fall ist, ein Consensus omnium bejaht werden. In dieser Phase werden zwischen den interessierten Staaten Kontakte aufgenommen, um die anstehenden Probleme einer Regelung zu zuführen.
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83. Abgedruckt in: Dokumente zur Abrüstung 1917—1976, Berlin 1978, S. 382— 383. Im gemeinsamen sowjetisch—amerikanischen Kommunique vom 3. 7. 1974 über die gleiche Materie ist ein ähnlicher Konsensus anzutreffen : „Sie gelangten zu der einmütigen Meinung, dass die auf diesem Gebiet zwischen ihnen geschlossenen grundlegenden Abkommen nach wie vor ein wirksames Instrument zur allgemeinen Verbesserung der sowjetisch—amerikanischen Beziehungen und der internationalen Situation insgesamt sind.” Abgedruckt in : ebenda, S. 398.
84. vgl. hierzu ausführlicher W. Spröte, Im Kampf für demokratische Umgestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, in : Einheit, Nr. 1, Berlin 1980, S. 24 ff.
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In der vierten Phase erstreckt sich der Consensus auf die zu klärenden Verfahrensfragen. Er wird durch Verhandlungen und gegenseitige Kompromisse erzielt.
Die fünfte Phase des konsensualen Prozesses bezieht sich auf die Regelung der substantiellen Fragen. Sie ist deswegen die wichtigste. In diesem Stadium spielen Wille, Interessenlage, Gerechtigkeitsempfinden und Rechtsbewusstsein die entscheidende Rolle. Die verschiedenen Sessionen der III. UNO-Seerechtskonferenz haben eindeutig den Beweis dafür geliefert, dass ökonomische, sicherheits-politische, geographische, entwicklungsmässige, ethische und andere Faktoren direkt oder indirekt von Bedeutung sind. Geht es um internationale Konferenzen der genannten Art oder um Tagungen der UNO-Vollversammlung, dann wirken diese Faktoren global.
Im Verhandlungsprozeß versuchen die Staaten, einen Interessenausgleich zu erzielen. Dabei hängt der Schwierigkeitsgrad des Interessenausgleichs von der zu regelnden Materie und vom politischen Standort der Verhandlungspartner ab. Die Verhandlungen zu Materien, die mit der Sicherheit der Staaten in Verbindung stehen, verlaufen in der Regel schwieriger. Dies gilt auch für ideologisch besonders wichtige Fragen, wie die allmähliche Erarbeitung der beiden Menschenrechtskonventionen von1966 gezeigt hat.
Bei den Verhandlungen zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung vollzieht sich in der Regel ein Zusammenstoß ihrer sozialpolitisch entgegengesetzt determinierten Interessen und der darauf fußenden Willen. I diesem Falle erfolgt der Interessenausgleich zweigliedrig. Auf internationalen Staatenkonferenzen und im Rahmen der UNO-Vollversammlung treffen sich die Interessen der sozialistischen und der westlichen Staaten sowie der jungen unabhängigen Staaten. In diesem Falle erfolgt der Interessenausgleich dreigliedrig.
Der Geltungsbereich der Verhaltensnormen ist relativ breit. An der Interessenkoordinierung zwecks eines Interessenausgleichs auf internationalen Staatenkonferenzen, im Rahmen der UNO- Vollversammlung oder auf bilateraler Ebene bei Verhandlungen über eine wichtige Materie sind verschiedene Determinanten beteiligt wie die globalen Probleme der Menschheitsentwicklung, das internationale Kräfteverhältnis, unter Umständen die Bündnisverpflichtungen, die objektiv bedingte gegenseitige Abhängigkeit, der Wille der Völker, die internationale öffentliche Meinung, die weltanschauliche Position und der politische Standort der Staaten, die ökonomische Stärke, die geographische Lage, die innenpolitische Situation in einem Staat, die Rechtsanschauungen , das Rechtsbewusstsein, die Wertvorstellungen, das Gerechtigkeitsempfinden, die Erwartungshaltung etc. Diese materiellen und ideellen, innerstaatlichen Faktoren und solche in den internationalen Beziehungen wirken in der Regel— das ist abhängig von der Verhandlungsmaterie — komplex und meistens gleichzeitig. Sie stellen damit einen dialektischen und widersprüchlichen Prozeß dar.
Im Verhandlungsprozeß koordinieren die beteiligten Staaten ihre Interessen und die darauf fußenden Willen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist Ausdruck ihres inhaltsbezogenen Consensus, findet seinen Niederschlag in Verträgen bilateraler oder multilateraler Art, Resolutionen und Deklarationen der UNO-Vollversammlung, Konferenzschlussakten, Absichtserklärungen etc. und stellt aus normbildungstheoretischer Sicht Verhaltensregeln dar. Somit bezieht sich der Consensus der Staaten auf Inhalt und Form der angenommenen Instrumente. Über die Normativitätsart und den Charakter der verschiedenen konkreten Ergebnisformen des konsensualen Willensbildungsprozesses wird aber noch nichts ausgesagt.
Dies ist der nächsten, der sechsten Phase dieses Prozesses vorbehalten. Zunächst ist davon auszugehen, dass die Staaten als politische Organisation im Rahmen des einheitlichen internationalen Normenbildungsprozesses politische Verhaltensregeln, politische Normen schaffen. Sie entscheiden gemeinsam (Consensus) darüber, ob diese politischen Normen rechtlichen oder nichtrechtlichen Charakters sind. Ihre Absicht (intentio) bzw. ihr Wille (voluntas) sind dabei ausschlaggebend. Geht es um die Absicht bzw. den Willen, völkerrechtliche Rechte zu begründen und Pflichten zu übernenmen und damit politisch-rechtliche Normen zu schaffen, dann seien die Termini intentio iuris generalis (allgemeine juristische Absicht) bzw. voluntas iuris (Rechtswille) und bei den internationalen Verträgen voluntas iuris generalis allgemeiner (Rechtswille) vorgeschlagen. Diese Termini vermögen m. E., die in Frage kommenden Sachverhalte in den internationalen Beziehungen am prägnantesten und am besten zu charakterisieren.
Gent es aber um die Absicht bzw. den Willen, politisch-nichtrechtliche Normen zu schaffen, so eignen sich hierfür die hier vorgeschlagenen Termini intentio política (politische Absicht) und demnach bei den internationalen politisch-nichtrechtlichen instrumenten intentio politica generalis (allgemeine politische Absicht) bzw. voluntas politica und folglich bei den internationalen politisch-nichtrechtlichen Dokumenten voluntas politica generalis (allgemeiner politischer Wille).
Den politisch-nichtrechtlichen Dokumenten ist ferner eigen, allgemeine Meinungen (opinio communis) bzw. allgemeine politische Meinungen (opinio communis politica) zum Ausdruck zu bringen.(85) Sie sind außerdem Ausdruck eines natürlich sachbezogenen Consensus generalis oder gar eines Consensus omnium, der an den recht unterschiedlichen Motiven und Zielstellungen der Staaten nichts zu ändern vermag, vor allem wenn es sich um Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung handelt.
Den bisherigen Überlegungen lag die Annahme eines einheitlichen Willens- bzw. Normenbildungsprozesses zugrunde, bei dem nicht voraus zu sehen war, welchen Charakter die Ergebnisformen haben würden, wie dies bei dem UNO-Projekt „Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen zwei oder mehreren internationalen Organisationen” der Fall ist.
Im Auftrage der UNO-Vollksersammlung befasste sich ab 1970 die ILC mit dieser Materie. (86) Elf Jahre später war jedoch auf der
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85. Vgl. hierfür auch: P. Terz. Für eine moderne Vereinbarungstheorie im Völkerrecht . Thesen,in : Impact of International Organizations on Public Administration, Budapest 1982, p. 209 ff. ; P. Terz, Die Vereinbarungstheorie im Völkerrecht. Thesen zur Diskussion, in : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx- Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Nr. 3, Leipzig, 1984, S. 328 ff. Meine in diesen Thesen enthaltene Position wird durch die vorliegende Studie wesentlich weiterentwickelt. Einige Aussagen erfahren dabei eine leichte Modifizierung.
86. Zur ILC-Arbeit vgl.: P. Terz—T. Ansbach, Zum Stand der Kodifikation des Vertragsrechts der internationalen Organisationen, in: Deutsche Außenpolitik, Nr. 7, Berlin1980, S. 70; P. Terz—T. Ansbach, Die Kodifizierung des Vertragsrechts der internationalen Organisationen— Theoretische Probleme, in : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Nr. 4, Leipzig, S. 367.
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36. Tagung der UNO-Vollversammlung kurz vor Beendigung der zweiten Lesung der Artikelentwürfe nicht klar, ob daraus eine Konvention oder vielleicht eine Deklaration wird (87). Erst nach Abschluß der zweiten Lesung 1982 und damit ihrer Arbeiten zu diesem Projekt konnte die ILC der UNO-Vollversammlung vorschlagen, eine Kodifikationskonferenz einzuberufen. ((88)Auf der 37. Tagung der UNO-Vollversammlung wurde dann die Resolution37/112 ohne Abstimmung angenommen, in der für die Erarbeitung der „Konvention über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen” plädiert wurde. (89)
In diesem Falle lag also über ein Jahrzehnt lang keine Entscheidung darüber vor, ob die Ergebnisform des Willens- bzw. Normbildungsprozesses politisch- rechtlichen oder politisch-nichtrechtlichen Charakters sein wird.
Aus der Dialektik dieses Prozesses ergibt sich jedoch prinzipiell, dass der Charakter der Ergebnisformen bereits zu Beginn der Verhandlungsführung bekannt sein kann. Dies ist eindeutig der Fall, wenn zwei Staaten verhandeln, um einen völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen. Gleiches gilt auch, wenn eine Kodifikationskonferenz zur Erarbeitung einer Konvention einberufen wird. Auf derartige Konferenzen bezieht sich das UNO-Projekt „Review of the multilateral treaty-making process”, das1975 in Angriff genommen wurde. ( 90) Auch wenn hierin Resolutionen genannt werden, sind sie nur als Vorstufe zur Vertragserarbeitung aufzufassen. Über den völkerrechtlichen Charakter des angestrebten Instruments besteht aber kein Zweifel.
Hieraus ist ersichtlich, dass es sich nicht um einen einheitlichen, sondern eindeutig um einen politisch- rechtlichen Willens-bzw. Normenbildungsprozeß (demnach politisch-rechtliche Ergebnisformen d. h. politisch-rechtliche Normen und um eine juristische Normativität bzw. Verbindlichkeit) handelt.
Besteht bereits zum Verhandlungsbeginn Klarheit darüber, dass das Ergebnis politisch-nichtrechtlicher Natur sein wird, dann handelt es sich unmissverständlich um einen politisch-nichtrechtlichen Willens- bzw. Normenbildungsprozeß (demnach politisch-nichtrechtliche Ergebnisformen, d. h.politisch-nichtrechtliche Normen und um eine politisch-moralische Normativität bzw. Verbindlichkeit).
Als wichtigstes Beispiel hierfür können politische Abkommen wie die KSZE-Schlußakte von1975, Resolutionen/Deklarationen der UNO-Vollversammlung sowie Deklarationen internationaler Staatenkonferenzen genannt werden, vorausgesetzt,
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87. Vgl. A/CN. 4/353, p. 4/5.
88. Vgl. A/CN. 4/L. 344, p. 17—19, para. 45—50.
89. Die Resolution 37/112 wurde von einer Gruppe, bestehend aus Vertretern von 15 Staaten im Rechtskomitee als Doc. A/C. 6/37/L. 28 am 3.12.1982 erarbeitet. Das 1975 in Angriff genommene UNO-Projekt (UN-Doc. A/32/143 and Corr. 1) dient dem Zweck, die Methoden und Verfahren zur Erarbeitung multilateraler Verträge, d. h. sämtliche Aspekte des Normbildungsprozesses von der Verhandlungsaufnahme bis hin zur Registrierung beim UNO-Sekretariat vor allem im Interesse der Entwicklungsländer genau zu untersuchen und zu vereinfachen. Inzwischen (1982) wurde das zu diesem Projekt gehörende gesamte Material von der UNO herausgegeben(Legislative Series, ST/LEG/SER.B/21).
91. Vgl. hierzu P. Terz, Der Normenbildungsprozeß in den internationalen Beziehungen und speziell im Völkerrecht, in : I. Wagner (Hrsg.), Sozialistisches Recht und juristischer Überbau, Leipzig, 1982, S. 281 ff. Die in diesem Beitrag entwickelten Positionen werden in der vorliegenden Studie selbstverständlich weiter entwickelt.-
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dass sie nicht nur allgemeine politische Zielstellungen und Programmsätze, also punctationes enthalten.
Dialektisch, d.h. in ihrer Widesprüchlichkeit und Dynamik betrachtet, sind die konkreten Ergebnisformen des internationalen Willens- bzw. Normenbildungsprozesses Verhaltensnormen politischer Natur. Gerade diese Eigenschaft politisch zu sein,ist das Bindeglied zwischen den rechtlichen und den nichtrechtlichen Normen. Hieraus ergibt sich aber einerseits, dass zwar jede rechtliche Norm politischer Natur ist,jedoch nicht jede politische Norm juristischen Charakter besitzt.
Auf Grund des dialektischen Wechselverhältnisses ist es andererseits durchaus möglich, dass politisch-nichtrechtliche Normen juristische Elemente beinhalten (Vgl. 3cc).
Spätestens in diesem Abschnitt und speziell an dieser Stelle ist evident geworden, dass die in der vorliegenden Studie erarbeitete theoretische Konzeption sich von der von H. Triepel erarbeitete und von G. Tunkin, worauf noch einzugehen sein wird, weiterentwickelte Vereinbarungstheorie unterscheidet.
Folgend seien einige wesentliche Unterschiede zur Vereinbarungs-Theorie Tunkinscher Prägung unterstrichen :
Erstens stellt hier die Konzeption nicht den souveränen Staat, sondern die Beziehungen zwischen den souveränen Staaten und damit ihr Verhalten in den internationalen Beziehungen in den Mittelpunkt. Hierdurch erhöht sich die Dialektik und Dynamik der zwischenstaatlichen Beziehungen.
Zweitens geht sie von einem einheitlichen internationalen Normenbildungsprozeß aus, der entweder zu unterschiedlichen Ergebnisformen (politisch-rechtliche und politisch-nichtrechtliche Verhaltensormen) führt oder unter Umständen in zwei Säulen (politisch-rechtlicher und politisch-nichtrechtlicher Normenbildungsprozeß) zerfallen kann. Während sich die Vereinbarungstheorie Tunkins auf die juristische Seite des Willensbildungsprozesses beschränkt, ist die hier entwickelte Normbildungstheorie breiter und komplexer. Das vereinbarte juristische Element wird nur als eine Säule des internationalen Normenbildungsprozesses angesehen.
Drittens werden die die Interessen und den Willen der Staaten beeinflussenden Faktoren in ihrer Komplexität erfasst.
Viertens vermag die Normbildungstheorie im Unterschied zu Tunkins Vereinbarungstheorie den konsensualen Charakter des Völkergewohnheitsrechts und bestimmter besonders wichtiger internationaler Instrumente (Resolutionen, Deklarationen etc.) zu erklären.
Fünftens berücksichtigt die Normbildungstheorie die zunehmende Bedeutung der jungen unabhängigen Staaten, während es Tunkin nur um die Beziehungen zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Staaten ging und weiterhin geht.
Tunkin entwickelte seine vereinbarungstheoretische Konzeption in Auseinandersetzung mit bürgerlichen Auffassungen. Er stützte sich dabei vorwiegend auf die Vereinbarungstheorie H.Triepels, übernahm ihren rationalen Kern (souveräne Staaten schaffen durch Vereinbarung das Völkerrecht) und wies auf den sozialen Charakter (sozialistische und Staaten) des vereinbarten Rechts hin.
Die vorliegende normbildungstheoretische Konzeption wird auf der Basis der neuesten Erkenntnisse der Philosophie sowie der Staats- und Rechtstheorie und zwar in Auseinandersetzung mit anderen Völkerrechtlern erarbeitet. Es erfolgt ferner eine kritische Aneignung und Verwertung der vereinbarungstheoretischen Erkenntnisse Tunkins.
In der siebenten Phase des dialektischen Normenbildungsprozesses bezieht sich der Consensus der in Frage kommenden Staaten auf das Akzeptieren einer geschaffenen Verhaltensnorm als verbindlich (juristisch oder politisch- moralisch) . Da in den seltensten Fällen die Staaten dies expressis verbis tun, kommt es auf das Verhalten der Staaten während des gesamten Normenbildungsprozesses sowie auf den Inhalt und die Form der angenommenen Instrumente und der darin enthaltenen Verhaltensregeln an.
Diesbezüglich gibt es allerdings angesichts des aus der staatlichen Souveränität erwachsenden Willenselements keinen Automatismus, d. h. dass politisch-rechtliche Verhaltensnormen nicht automatisch juristisch verbindlich sind, wie die Staatenpraxis bei ratifikationsbedürftigen Konventionen zeigt. Erst nach dem Abschluß des vertraglich festgelegten Ratifikationsverfahrens, das oft über ein Jahrzehnt dauern kann, erlangt eine Konvention für die Teilnehmerstaaten juristische Verbindlichkeit.
Mit der siebenten hängt die achte Phase eng zusammen. In ihr erstreckt sich der Consensus auf die Bereitschaft der Staaten, sich nach den akzeptierten Verhaltensregeln politisch-rechtlicher oder politisch-nichtrechtlicher Art zu richten d. h. die Bereitschaft, diese einzuhalten (Vgl. 3cd).
Hier bedart es jedoch einer Differenzierung : Während die rechtlichen Normen grundsätzlich einzuhalten sind, ist es bei den politisch-nichtrechtlichen Normen den souveränen Staaten überlassen, die aus ihnen erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen. In diesem Falle gilt somit der Grundsatz der Freiwilligkeit, so z. B. bei den Resolutionen/Deklarationen der UNO-Vollversammlung. Dabei richtet sich ein konkreter Staat in der Regel nach dem Verhalten der anderen Teilnehmerstaaten. Dies ist bei den politischen Abkommen (KSZE-Schlußakte) ohne weiteres festzustellen.
Der Gegenseitigkeitsfaktor scheint vorherrschend zu sein.
In der neunten Phase liegt ein Consensus darüber vor, dass die Verletzung der angenommenen rechtlichen Verhaltensnormen gemäß dem Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit Sanktionen nach sich ziehen kann.
Ob die Verletzung politisch-nichtrechtlicher Normen zur Einleitung von Sanktionen eben politisch-moralischer Natur berechtigt, ist schwierig,bejahend oder verneinend zu beantworten. Es ist eher anzunehmen, dass in diesem Falle unter Beachtung des Grundsatzes der Freiwilligkeit einerseits keine Berechtigung vorliegt, gegen den betreffenden Staat konkrete Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen. Andererseits ist aber damit zu rechnen, dass ein derartiges Verhalten nicht ohne negative Folgen für ihn bleiben wird. So könnte er z.B. in den internationalen Beziehungen an Glaubwürdigkeit verlieren und moralisch verurteilt werden.
Dies würde seinem Prestige und seiner Ehre Abbruch tun. Sollte ein Staat Sanktionen politischer Art doch für notwendig halten, so hat er dabei das Prinzip der Friedenssicherung und die völkerrechtlichen Grundprinzipien strikt zu respektieren.
Die hier erläuterten möglichen Phasen des Normenbildungsprozesses dürfen selbstverständlich nicht als Dogma und statisch betrachtet werden. Unter Umständen könnten sich aus den jeweiligen Inhalten und Bedingungen die Notwendigkeit und die Möglichkeit ergeben, diese oder jene Phase zu überspringen. Abgesehen davon, wurde hier die Phaseneinteilung vorwiegend aus methodischen Gründen vorgenommen.
Der Normenbildungsprozeß sollte in seiner Komplexität und Dialektik gesehen werden, um eben die sich real vollziehenden Prozesse in den internationalen Beziehungen adäquat und richtig widerspiegeln zu können.
In den internationalen Beziehungen erfolgt der Interessenausgleich zwischen den Staaten, wie bereits nachgewiesen, auf der Basis des Consensus zwischen den Staaten. Dabei sind die politisch-rechtlichen Normen die konkretesten und wichtigsten Ergebnisformen. Auf sie kann der traditionelle Begriff der Vereinbarung nach wie vor angewandt werden.
Gerade um die Vereinbarung ging es im 19. Jh. bei H.Triepel, der zwischen dem Vertrag und der Vereinbarung unterschied. Der Vertrag sei die „Vereinigung mehrerer Personen von verschiedenem, aber korrespondierendem Interesse zu inhaltlich entgegesetzten, auf denselben äussern Zweck gerichteten Willensäußerungen”. Ausschlaggebend sei nach H. Triepel, daß der Willensinhalt der Kontrahenten verschieden ist, und daher könne der Vertrag keinen Gemeinwillen bilden. Nur bei der Vereinbarung sei der Willensinhalt der Kontrahenten identisch.
Er betrachtete also die Vereinbarung als Verschmelzung verschiedener aber inhaltlich gleicher Willen. Das Ergebnis der Vereinbarung sei ein Gemeinwille, der das Völkerrecht schaffe : „Ich finde die bindende Kraft des Völkerrechts einmal darin begründet, dass in dem Gemeinwillen, dessen Inhalt dem Staat als Norm seines Verhaltens gegen andere Staaten erscheint, ihm nicht ein durchaus fremder, sondern zugleich sein eigener Wille entgegentritt… Nicht lediglich sein eigener Wille, … aber doch nicht schlechthin ein fremder Wille. Freilich, der Wille des Staates, der jenen Gesamtwillen mit begründet, ist nicht unwandelbar; er kann sich ändern in dem Sinne, dass der Staat sich jetzt nicht ebenso an der Gesamtwillensbildung beteiligen würde, wie er es früher tat.” (92)
Diese Gemeinwille-Konzeption wurde teilweise von K. Binding (93) sowie von D. Anzilotti, (94) wenn auch modifiziert, ebenfalls vertreten. Auch als „Gesamtwille” ist sie anzutreffen. (95) Diese„kollektiv-psychologische Erscheinung”(96) stieß bei vielen Völkerrechtlern auf Ablehnung. G. Morelli z.B. kritisierte an der Konzeption die Ungeeignetheit, ein einheitliches Völkerrechtssystem aufzubauen. Es gäbe eine große Anzahl von zwischenstaatlichen Vereinbarungen, die im Grunde miteinander nicht verbunden wären.(97) Die massivsten Angriffe gegen die Triepelsche Gemeinwille-Konzeption, soweit überblickbar, werden von T. Gihl geführt. Er wirft ihr Mystizismus vor, spricht in diesem Zusammenhang von einer „unio mystica” und schätzt schließlich ein, dass sie zum Scheitern verurteilt ist. (98) Einer gründlichen Kritik unterzog diese Konzeption erst der sowjetische Völkerrechtler
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92. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. 26 ff., 45,
50, 64 ff., 75, 82.
93. Vgl. K. Binding. Die „Vereinbarung”. Ihr Begriff — ihreschöpferische Kraft ; Zum Werden und Leben der Staaten, München, Leipzig 1920, S. 215, 217 : Die Vereinbarung „geht dahin : durch die Verabredung eines gemeinsamen Willens… entsteht eine Willensmacht über die Verabredenden, der alle Teilnehmer an der Verabredung zu entsprechen haben”. Binding erkannte aber die Schwächen dieser Konzeption : „sie scheint nicht ganz frei von einem mystischen Element zu sein” (s. 245).
94. Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1, Berlin, Leipzig 1929, S. 31, 38 ff. Auch er meinte, dass die Vereinbarung Ausdruck des „Gesamtwillens” sei und Normen schaffe. D. Anzilotti orientierte jedoch auf eine„Grundnorm” (Pacta sunt servanda), die die Staaten zur Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen verpflichtet. Durch die Grundnorm würde Völkerrecht entstehen.
95. Vgl. insbesondere W. Sauer, System des Völkerrechts, Bonn 1952, S. 54.
96. Vgl. F. Somló, Juristische Grundlehre, Aalen 1973 (Neudruck der 2. Auflage, Leipzig1927), S. 233.
97. Vgl. G. Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova1963, p. 12/13.
98. Vgl. T. Gihl, The legal Charakter and Sources of international Law, a. a. O., p. 59 („the union of the wills of the various states into a collective will in the Vereinbarung is pure mysticism ; this unio mystica has the obvious intent of making the rules of international law emanate from a will”).
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G.Tunkin. Er lehnt hauptsächlich das formelle und dogmatische Herangehen an die Vereinbarungsfrage und das Vorbeigehen „an den Prozessen des Kampfes und der Zusammenarbeit” bei der Vörkerrechtsschöpfung ab. Tunkin unterstreicht zugleich dem rationalen Kern der Konzeption H. Triepels, „dass die Vereinbarung zwischen den Staaten die einzige Methode der Schaffung der Prinzipien und Normen des Völkerrechts darstellt”.(99). Einerseits ist Tunkins Kritik zu folgen. Andererseits darf man jedoch die historische Wahrheit nicht übersehen, dass der Positivismus, darunter der Rechtspositivismus, seinen Siegeszug antrat, nachdem die bürgerliche Klasse ihre „heroischen Ilusionen” schon längst über Bord geworfen hatte und es ihr nur um die Sicherung ihrer Macht ging.
Diesem politischen Ziel dienten konkrete Rechtsnormen. gesellschaftspolitische Erfordernisse zwangen die Positivisten, das Recht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus zu konstruieren. (100) Deswegen konnte H.Triepel das soziale Wesen der Vereinbarung nicht aufdecken.
Die Bewältigung dieser Aufgabe war unter völlig anderen historischen Bedingungen (Existenz sozialistischer und kapitalistischer Staaten) dem Marxisten Tunkin vorbehalten. Seine vereinbarungstheoretische Konzeption ist zwar nach wie vor von Bedeutung, entspricht jedoch den höheren Anforderungen in den internationalen Beziehungen der Gegenwart nicht mehr ganz, weil durch sie eben soziale Prozesse wie die juristisch verbindlichen Beschlüsse von Plenarorganen internationaler Organisationen (z. B. Beschlüsse der UNO-Vollversammlung zu Haushaltsfragen), die zunehmende Bedeutung politisch- nichtrechtlicher Normen und übrigens auch die Entstehung des Völkergewohnheitsrechts nicht befriedigend gedeutet werden können. Eine angemessene Lösung dieses für die internationalen Beziehungen in besonderem Maße wichtigen theoretischen Problems kann m. E. nur auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Philosophie, der Staats- und Rechtstheorie und der Theorie der internationalen Beziehungen, in ständiger Auseinandersetzung ebenfalls mit den neuen bzw. neuesten Forschungsergebnissen anderer Völkerrechtsler und unter unbedingter Beachtung der völkerrechtstheoretischen Positionen der sich sukzessiv entwickelnden Völkerrechtswissenschaft der jungen unabhängigen Staaten gefunden werden.
In einem anderen Zusammenhang wurde angedeutet, dass der Staatenkonsensus auch juristische Aspekte aufweist. Dies ist der Fall, wenn die Staaten darüber übereinstimmen, dass ein von ihnen gemeinsam geschaffenes Instrument juristischen Charakter besitzt.
Diesbezüglich kann auf den rationellen Kern der Consensus-Lehre im Römischen Recht zurückgegriffen werden. Die wichtigste Grundlage hierfür bildeten die Digesten (Ulpianus, 3 50 12 : „Pactum est duorum consensus atque conventio”). Hieraus ist ersichtlich, dass Conventio erklärter Consensus, d. h. die Erklärung des Consensus ist. Nach den Digesten setzt sich der Vertrag aus innnerer Willenseinigung (Consensus) und äußerer Erklärungsübereinstimmung (Conventio) zusammen. Consensus bedeutet also im Römischen RechtWillensübereinstimmung, (101) ohne die ein Vertrag nicht zustande kommen kann.
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99. G. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart, Berlin1963, S. 131—135.
100. Vgl. auch H. Klenner, Grundsatzprobleme im Vorfeld einer Rechtsbildungstheorie, in : K. A. Mollnau (Hrsg.), Probleme einer Rechtsbildungstheorie, Berlin 1982, S. 20 ff.
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Einige Autoren gehen bei der Interpretation des Consensus darüber hinaus, indem sie auch die„übereinstimmende Meinung der Parteien über die wesentlichen Vertragselemente, besonders des Typus und die Hauptgegenstände des Vertrags” erfassen. (102)
Das Wesen des Consensus im Römischen Recht besteht darin, dass die Willensübereinstimmung die conditio sine qua non jedes Vertrages ist. Die Willensübereinstimmung bedeutet, dass die sachbezogenen Meinungen derKontrahenten ebenfalls übereinstimmen. Dieser hohe Abstraktionsgrad kann natürlich weder das soziale noch das politische Wesen der Willensübereinstimmung zum Ausdruck bringen. Das konkrete soziale und politische Wesen der Willensübereinstimmung ist ohnehin nicht a priori gegeben.
In den internationalen Beziehungen und speziell im Völkerrecht kommt es bei dieser Fragestellung auf den politischen Standort der Vertragspartner an. Während z. B. bei einem Vertrag zwischen Staaten einer Gesellschaftsordnung die Willen juristisch und politisch übereinstimmen, würde eine wesensmäßige, d. h. sich auf klassenbedingte Motive und Zielstellungen beziehende politische Willensübereinstimmung zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Staat eine regelrechte contradictio in adiecto bedeuten. Von einer solchen politischen Übereinstimmung ist jedoch eine Übereistimmung der Meinungen und Willen über politische Fragen zu unterscheiden.
Letztere ist im Rahmen des konsensualen politisch nichtrechtlichen Willens-bzw. Normenbildungsprozesses der Fall. Hinsichtlich der multilateralen Verträge universellen Charakters ist die Willensübereinstimmung evidenter.
Das Ergebnis der Interessen- und Willenskoordinierung, erzielt im Verhandlungsprozeß, ist einheitlich. (103) Während die Willenskoordinierung ein Verfahren darstellt, ist die Willensübereinstimmung das Ergebnis des Willensbildungsprozesses. Von der Willensübereinstimmung im völkerrechtlichen Normsetzungsprozeß spricht auch Tunkin. Er bezieht dabei die Willensübereinstimmung auf den Inhalt einer Norm sowie auf ihre Anerkennung als Rechtsnorm. Hinzu kommt noch die gegenseitige Bedingtheit der Staatswillen. Sie äußert sich darin, dass die Zustimmung des einen Staates zur Anerkennung einer Norm als Völkerrechtsnorm nur unter der Bedingung gegeben wird, dass der andere bzw. die anderen Staaten gleichfalls die Zustimmung dazu geben. Nach Tunkins Auffassung sind damit die Übereinstimmung und die gegenseitige Bedingtheit der Willen die zwei wichtigsten Merkmale der Vereinbarung als Mittel der Setzung von Völkerrechtsnormen. (104)
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101. Vgl. hierzu sehr ausführlich die aufschlussreiche Studie von H. Fritsche,Untersuchungen über die Bedeutung von consensus und consentire in den Digesten, Dissertation, Universität Göttingen 1888, S. 5—7, 17, 27—33, 59—69 und 99. Nach Fritsche sei bei den Digesten der Consensus die „psychologische Thatsache der Congruenz innerer Willen”(S. 69). Nach R. Leonhard meinten die Römer unter „Consensus“ den Willen sowie die Erklärung, weil sich beide im Normalfall bei den Vertragsabschlüssen deckten. Vgl. Consensus, in : Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Siebender Halbband, Hrsg. G. Wissowa, Stuttgart1900, S. 902, 907. Nach S. Brie lag „der gewohnheitsrechtlichen Uebung nach römischer Anschauung ein inneres Moment zugrunde”, das zuerst Varro, dann Gellius, Gaius und Ulpianus sowie die Institutionen Justinians „Consensus” nannten. Vgl. Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Erster Theil, Geschichtliche Grundlegung, Breslau 1899, Universitätsnächdruck, Frankfurt1968, S. 16.
102. M. Käser, Handbuch der Altertumswissenschaft, Das Römische Privatrecht, Erster Abschnitt, München1971, S. 237.
103. Vgl. hierzu auch I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno-prawowogo regulirowanija, Kiew 1980, S. 29.
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In neueren Publikationen Tunkins und anderer sowjetischer Völkerrechtler ist aber nicht mehr von der Übereinstimmung, sondern nur von der Koordinierung der Willen die Rede. (105).
Die Konzeption von der Willenskoordinierung kann jedoch rechtstheoretisch die Rechtsnorm als ein für die Staaten einheitliches Modell verbindlichen Verhaltens nicht erklären. Wird diese Konzeption konsequent zu Ende gedacht, so gäbe es nach dem Abschluß von Vertragsverhandlungen zwischen hundert Staaten immer noch hundert unterschiedliche Staatswillen. Was aber in einem solchen Fall die Staaten schaffen, ist „das einheitliche Ergebnis ihresZusammenwirkens”. (106)
In einer Publikation neueren Datums bekräftigt Tunkin seineVereinbarungskonzeption aus den 50er und 60er Jahren und versucht, sie teilweise weiterzuentwickeln. Als Demonstrationsobjekt hierfür nennt Tunkin die im Artikel 38 des IGH-Statuts erwähnten „Allgemeinen Rechtsprinzipien” („General Principles of Law”), die juristisch verbindlichen Beschlüsse sowie einen empfehlenden Charakter aber auch einzelne rechtliche Elemente besitzenden Resolutionen internationaler Organisationen. Die in seiner Argumentation auftretenden Probleme logischer und rechtstheoretischer Art lassen die Schwächen seiner vereinbarungstheoretischen Konzeption relativ leicht erkennen. Denn es gelingt ihm in keinem der drei Fälle überzeugend nachzuweisen, dass sie („Allgemeine Rechtsgrundsätze” etc.) das Ergebnis von juristischen Vereinbarungen zwischen den Staaten seien. (107)
In der westlichen Fachliteratur wird die Übereinstimmung (Consensus, consent), bezogen auf das Völkerrecht zum einen ganz allgemein aufgefasst : Übereinstimmung der Auffassungen über das System und die Prinzipien des Völkerrechts bereits als Fakt (108) oder als etwas Erstrebenswertes. (109) Zum anderen wird der Consensus
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104. Vgl. G. I. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart, Berlin1963, S. 135—137.
105. Vgl. : G. I. Tunkin, Soviet theory of sources of international law, in : Völkerrecht und Rechtsphilosophie, Internationale Festschrift für St. Verosta zum
70. Geburtstag, Hrsg. P. Fischer—H. F. Köck—A. Verdross, Berlin 1981, S. 68 ff.;
G. I. Tunkin (Hrsg.), Meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1982, S. 45—48 ; Slowar meschdunarodnogo prawa, Hrsg. B. M. Klimenko—B. F. Petrowskij—J. M. Rybakow, Moskwa 1982, S. 91 ; D. B. Lewin, Meschdunarodnoje prawo, wneschnaja politica i diplomatija, Moskwa 1981, S. 122 ; D. I. Feldman—G. L. Kurdjukow— W. N. Lichatschow, O sistemnom podchode w nauke meschdunarodnogo prawa. In : Prawowedenije, Nr. 6, Leningrad 1980, S. 43 ; G. W. Ignatenko—D. B. Ostapenko (Hrsg.), Meschdunarodnoje prawo, M. 1978, S. 7 und 30 ; S. W. Tschernitschenko, Normy meschdunarodnogo prawa, ich sosdanije i osobennosti ich struktury, in: Sowjetskij jeschegodnik meschdunarodnogo prawa 1979, Moskwa 1980, S. 48/49 ;Ju. G. Barsegow, Meschdunarodno-prawowyje aspekty gbobalnych problem sowremennosti, in : Sowjetskoje gossudarstwo i prawo, Nr. 6, Moskwa1983, S. 85(er spricht vorwiegend vor der Interessenkoordinierung). Vgl. ähnlich (Völkerrechtals das Ergebnis abgestimmter Willen souveräner und völlig gleicher Staaten), P. I. Rusu, The fundamental change of circumstances in the modern law of treaties, in : Revue Roumaine d’ Études Internationales, No. 3, Bucuresti 1982, p. 177.
106. Vgl. hierzu ausführlich I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno…, a. a. O., S. 29, der als einer der wenigen sowjetischen Völkerrechtler der Vereinbarungstheorie Tunkinscher Prägung nicht vorbehaltlos folgt.
107. Vgl. G. I. Tunkin, Soviet theory of sources of…, a. a. O., p. 77.
108. Vgl. beispielsweise : D. W. O. Coplin, The Functions of International law : An Introduction to the Role of International Law in the Contemporary World, Chicago 1966, p. 185 ; D. I. L. Brown, Public International Law, London 1970, p. 270 ; W. C. Jenks, Recht und sozialer Umbruch, in : Recht und sozialer Umbruch, Ein ökumenisches Symposium, Hrsg. Chr. Walther, Frankfurt/M. 1971, S. 77 (in seiner m. E. bekanntesten Schrift „The Common Law of Mankind”, London1958, p. 3, warf Jenks hingegen die Frage auf, ob in der Welt ein ausreichender Consensus über allgemeine Rechtsgrundsätze erreicht werden könne).
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-dabei sind Nuancen nicht zu übersehen— allgemein als die einzige Quelle des Völkerrechts angesehen. Dies ist vorwiegend bei Völkerrechtlern aus dem deutschsprachigen Raum (110) sowie bei mehreren aus dem „angloamerikanischen Rechtskreis” (111) festzustellen. Bei den Letzteren darf aber der Consensus nicht mit der Konzeption von „Common consent” verwechselt werden, die zwar im Prinzip die gemeinsame Übereinstimmung als Grundlage des Völkerrechts betrachtet („Common consent“) is the basis of all law” (112) jedoch eine Majorisierung einiger Staaten zulässt, weil sie letzten Endes nicht die Zustimmung jedes Staates verlangt. (113)
Weitere Juristen erkennen ebenfalls die grundlegende Bedeutung des Consensus für das Völkerrecht (114) und bringen seine Bedeutung mit der staatlichen Souveränität in Verbindung. (115) In einem Fall wird der Versuch unternommen, die Grundlagen der Völkerrechtsordnung den „natürlichen und soziologischen Gegebenheiten in der
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109. So z. B. A. Dean, The Importance of International Law in the Maintenance of Peace, in : International Law in a changing World, New York 1963, p. 71. I. M. Sinclair hingegen, The Vienna Convention on the Law of Treaties, Manchester1973, vermag einen Consensus über die internationale Rechtsordnung nirgends zu erkennen (p. 131).
110. Stellvertretend für andere seien hier paradigmatisch genannt : H. Huber, Weltweite Interdependenz, Gedanken über die grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rückständigkeit des Völkerrechts, Bern1968, S. 29 (das Völkerrecht beruht auf dem Konsens der Staaten) ; A. Verdross—B. Simma, Universelles Völkerrecht, Theorie und Praxis, Berlin1976, S. 30 (alle Normen des Völkerrechts beruhen auf einem zwischenstaatlichen Konsens) ; H. Mosler, The international society as a legal community, in : Recueil de Cours, Académie de droit international, IV, 140, Den Haag, p. 90 (“The principal source of law is therefore the consensus of states”) ; H. Weber—V. Wedel, Grundkurs Völkerrecht, Das Internationale Recht des Friedens und der Friedenssicherung, Frankfurt am Main1977, S. 33/34 (das Völkerrecht kann nur „auf einen konsensualen Satzungsakt zurückgeführt werden”) ; besonders prononciert A. Bleckmann, Die Funktionen der Lehre im Völkerrecht, Materialien zu einer Allgemeinen Methoden- und Völkerrechtslehre, Köln, Bonn, München1981, S. 313 (der Konsens als Ausgangspunkt der Rechtsquellenlehre ; der Konsens kann zu einer „Grundnorm des Völkerrechts” werden).
111. Als Beispiel seien genannt : L. Henkin, How Nations Behave, Law and Foreign Policy, London1968, p. 25 („General law depends on onsensus“ ; M. Akehurst, A modern introduction to international law, London1970, p. 9 ; W. D. Coplin, The Functions of International Law…, a. a. O., p. 170, 185, („international law and its related institutions provide a medium through which a consensus can be reached on the nature of the state system”).
112. Dieser prägnante Satz wurde von L. Oppenheim, International Law, Vol. I, London1955, p. 5, 11 geprägt.
113. Vgl. L. Oppenheim, International Law a Treatise, New York 1920, p. 14 ff. Dennoch wird das Völkerrecht in der „Encyclopedia Americana, International Edition, Vol. 7, New York1966 uneingeschränkt wie folgt definiert : „International law, a term usually defined as that body of rules, principles, and standards to which independent states are bound by common consent” (p. 254).
114. Vgl. vor allem A. D’Amato, On Consensus, in : The Canadian Yearbook of International Law, Vol. VIII, Vancouver 1970, der im Grunde die Begriffe „Consensus” und „Völkerrecht” als Synonyme verwendet (der Consensus sei „merely a definition of what we mean by the expression international law”, p. 122). Vgl. ferner : O. Y. Asamoah, The Legal Significance of the Declarations of the General Assembly of the United Nations, The Hauge 1966 (der Consensus als die Grundlage für die Entwicklung des allgemeinen Völkerrechts, p. 57).
115. So J. P. A. Tammes, Soft Law, in: Essays on international and comparative law in honour of judge Erades, The Hague 1983, p. 188. Er zieht aus der Verbindung von Consensus und staatlicher Souveränität die zu unterstützende Schlußfolgerung, daß dritte Staaten ohne ihre Zustimmung nicht verpflichtet werden können.
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internationalen Gemeinschaft” und im „Konsens der Staatengemeinschaft” zu erblicken. (116) Einerseits wird über die formaljuristische Betrachtungsweise anderer Völkerrechtler hinausgegangen, andererseits werden allerdings die dem Consensus zugrundeliegenden sozialen, politischen und anderen Faktoren nicht genannt.
Die kurz skizzierten Auffassungen über die grundlegende Bedeutung des Consensus für das Völkerrecht haben zwar einen rationalen Kern, dass nämlich die Übereinstimmung der Staaten die unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung des Völkerrechts ist, sie sind jedoch mit mehreren Mängeln behaftet : Sie sind zu abstrakt, allgemein und absolut ; es wird
zwischen den bezüglich des Charakters unterschiedlichen Ergebnissen des Staatenconsensus nicht unterschieden ; sie stehen weder mit dem Interesse noch mit dem Willen der souveränen Staaten in Verbindung ; sie stellen summa summarum keine geschlossene theoretische Konzeption, sondern Gedankenfragmente dar.
Im Unterschied dazu konzentrieren sich andere Völkerrechtler— die wenigsten jedoch in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg— auf die Willensübereinstimmung als Entstehungsgrund des Völkerrechts. An erster Stelle stehen deutsche (117) und
italienische (118) Juristen. Abgesehen von seltenen Ausnahmen, (119) wird allerdings die Willensübereinstimmungsproblematik zu allgemein und abstrakt behandelt. Es werden keine philosophischen, soziologischen, erkenntnistheoretischen undrechtstheoretischen Untersuchungen angestellt. Die entscheidende Tatsache, dass es gegenwärtig sozialistische, kapitalistische und junge unabhängige Staaten mit unterschiedlichen Interessenlagen und Willen gibt, wird dabei völlig übersehen.
Dies gilt in diesem Kontext teilweise auch für jene Juristen, die ansonsten eine globale Sicht an den Tag legen. (120) Gleiches kann auch hinsichtlich des Charakters des Völkerrechts konstatiert werden.
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116. Vgl. R. Bernhardt, Ungeschriebenes Völkerrecht, in : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band 36 Nr. 1—3, Stuttgart 1976, S. 54.
117. Vgl. vor allem Th. Niemeyer, Völkerrecht, Berlin und Leipzig, 1923, der eine abgerundete Konzeption über die Willensübereinstimmung erarbeitete, wobei er sie mit Staatenkonsens gleichsetzte: „Das Völkerrecht besteht aus den durch übereinstimmenden Willen der Staaten für deren gegenseitige Beziehungen aufgestellten Rechtsnormen.” Ausgehend von der staatlichen Souveränität, betont er ferner, daß der Staatenkonsens die „einzige Quelle alles geltenden Völkerrechts ist” (S. 7, 11—15, 18/19). Vgl. ferner : A. Hold v. Ferneck, Lehrbuch des Völkerrechts, 2 Bände, Band I, Leipzig1930—32, (gegen den „Geheimwillen”; der über einstimmende Wille der Staaten ist die Grundlage des Völkerrechts), S. 110, 188; K. Strupp, Règles générales du droit de la paix; in: Recueil de Cours, Académie de droit internationale, Band47, Den Haag1934 (aus der Souveränität und der Gleichheit der Staaten ergibt sich, daß ohne Willensübereinstimmung kein Völkerrecht möglich ist), S. 301.
118. Vgl. in erster Linie T. Perassi, Teoría dominicata delle di norme giuridiche in diritto internazionale, in: Rivista di diritto internazionale, Milano 1917 („das wesentliche Moment der Vereinbarung ist die Willensübereinstimmung von zwei oder mehr Staaten”), p. 290 und M. Gulano, La communita internazionale e il diritto, Padova1950, p. 81.
119. Paradigmatisch ist hierfür Ch. Chaumont zu nennen, nach dessen Meinung die übereinstimmenden Willen ihre Ziele weiterhin nicht aufgeben. Er empfiehlt, Authentizität und Dauer der Willensübereinstimmung von konkreten, analysierbaren Faktoren abhängig zu machen und versucht dabei, eine dialektische Betrachtungsweise zu entwickeln („L’application de la méthode dialectique à l’analyse du droit et en particulier du droit international”).
Vgl. Methode d’ analyse du droit international, in : Revue belge de droit international, Tome XI, No.1, Bruxelles1975, p. 32—33.
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Mehrere Völkerrechtler vertreten zwar die richtige Auffassung, dass das Völkerrecht einen Koordinationscharakter besitzt (121) bzw. eine Koordinationsordnung dar stellt. (122) Geht es aber um die politische Qualifizierung und Einordnung des Völkerrechts, dann beschränken sie sich auf Oberflächenerscheinungen. (123) Gerade die politische Einschätzung des Völkerrechts ist aber von besonderer Wichtigkeit, will man das Wesen, die Funktion und die Bedeutung des Völkerrechts erfassen.
In diesem Zusammenhang kann das Völkerrecht im Großen und Ganzen folgendermaßen beurteilt werden : Es gilt in unserer Epoche, in der die friedliche Koexistenz das politische Grundprinzip in den Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung darstellt ; die friedliche Koexistenz ist die allgemeinpolitische Grundlage des Völkerrechts, das somit einen allgemeindemokratischen Charakter besitzt ; (124) die wichtigste Aufgabe des Völkerrechts ist die Friedenssicherung, deshalb kann es als Friedensrecht betrachtet werden; es ist universell, d. h. es gilt für alle Staaten, wobei hier hauptsächlich die Grundprinzipien und die anderen Normen mit Jus-cogens-Charakter gemeint sind; es trägt zum sozialen Fortschritt vor allem durch die Schaffung günstiger äußerer Bedingungen für den nationalen und sozialen Befreiungskampf bei ;
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120. So z. B. O. Kimminich, der zu den wenigen deutschen Völkerrechtlern gehört, welche die neuesten Entwicklungen in den internationalen Beziehungen und im Völkerrecht einfangen und sich dazu äußern, wie u. a. sein Beitrag „Das Völkerrecht und die neue Weltwirtschaftsordnung”, in : Archiv des Völkerrechts, Band 20, Nr. 1, Tübingen1982, S. 2—39 eindeutig zeigt. Hierin schreibt er : „…denn die Ordnung des Völkerrechts gründet sich auf die Willensübereinstimmung und nicht auf den Willen einer globalen Diktatur” (S. 26).
121. Vgl. stellvertretend für andere : H. Mosler, Die Erweiterung des Kreises des Völkerrechtssubjekte, in : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band22, Stuttgart 1962(„Das Völkerrecht ist que definitione ein Koordinationsrecht”), S. 38 ; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, Tübingen 1967, S. 1; E. Menzel—K. Ipsen, Völkerrecht, Ein Studienbuch, München 1979 (Nachteile des Völkerrechts als eines Koordinationsrechts : langsame Entwicklung, da abhähgig vom Kooperationswillen aller Mitglieder ; Vorteile : Beständigkeit und Nähe zur Wirklichkeit), S. 40 ; L. Delbez, Les principes généraux du droit international public, Paris1964, p. 28 ; indirekt auch R. Pinto, Le Droit des Relations Internationales, Paris 1972 (das Völkerrecht regelt die Beziehungen zwischen souveränen Staaten), p. 84, T. Gebrehana, Duty to Negotiate, An Element of International Law, Uppsala1978 (das Völkerrecht als „Recht der Koordinierung und Anpassung”), p. 35, H, Lauterpacht bezweifelt hingegen den Koordinationscharakter des Völkerrechts. Vgl. The Function of Law in the International Community, Hamden, Connecticut 1966, p. 418, 419; derselbe, International Law, collected Papers (Ed. b. E. Lauterpacht),Cambridge 1970, p. 196. 122 122. Vgl. paradigmatisch: A.P. Sereni, Diritto Internazionale, I, Milano 1956, p. 86 ; P. Vellas, Droit International Public, Paris 1967, p. 16 ; A. Verdross, Völkerrecht, Wien 1964, S. 17 ff.; P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1, Genf 1948, S. 3. 123.
123. So schätzt z.B. L. Delbez, Les principes généraux…,a.a.O., das Völkerrecht als ein „egoistisches Recht” ein, da es den Staaten nicht verbietet, ihre Eigenen Interessen zu befolgen und dadurch anderen Staaten zu schaden (p. 16) ; W. Friedman, The Changing Structure of International Law, New York 1966 (das Völkerrecht verlangt als „kooperatives Recht” Gemeinsamkeit der Staateninteressen), p. 57. Von den genannten Autoren unterscheidet sich B. J. Theutenberg, der eine universalhistorische und globale Sicht entwickelt. Er sieht einen modus vivendi zwischen der Rechts- und Völkerrechtsauffassungen der westlichen, der sozialistischen und der jungen unabhängigen Staaten. Vgl. Changes in the norms guiding the international legal system-history and contemporary trends, in : Nordisk Tidsskrift for international Ret, Acta scandinavica juris gentium, Vol. 50, No. 1—2, Kobenhavn 1981, p. 32, 39.
124. Vgl. auch G. W. Ignatenko—D. B. Ostapenko, Meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1978, S. 30—35.
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das Völkerrecht widerspiegelt in gewisser Hinsicht allgemein-menschliche Werte. (125)
Diese offenkundig unterschiedliche Auffassung über den Charakter des Völkerrechts schließt wiederum nicht aus, dass
sozialistische und bürgerliche Völkerrechtler das Völkerrecht im Prinzip ähnlich definieren und zwar als ein System (126) bzw. als einen Komplex von Rechtsnormen über die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen. (127) Die Rechtsnormativität des Völkerrechts wird also im Prinzip bejaht. Es gibt aber auch andere Auffassungen. Soweit überblickbar, hat die „New Haven approach” ( McDougal) die normative Komponente des Völkerrechts am gründlichsten über Bord geworfen, indem das Völkerrecht als ein „Prozeß der Wertmaximierung” („maximization of values”) und als eine Abfolge autoritativer Entscheidungen („flow of decisions”) betrachtet wird. (128 )
Das Völkerrecht ist nicht nur ein System von allgemeinverbindlichen Verhaltensnormen und damit ein allgemeinverbindlicher Maßstab für alle Staaten, sondern auch ein Regulator gesellschaftlicher Verhältnisse in den internationalen Beziehungen. Es besitzt ferner eine zielsetzende, bewertende sowie, zumindest theoretisch, eine Zwangsfunktion, deren Realisierung vom konkreten internationalen Kräfteverhältnis abhängt. Seine typische Eigenschaft ist bei aller Bedeutung anderer Faktoren wie des Rechtsbewusstseins, des Gerechtigkeitsempfindens etc. die Rechtsnormativität. (129) Somit wird hier für einen „engen” Völkerrechtsbegriff plädiert. Dabei wird die Rechtsnormativität des Völkerrechts im Blickwinkel der Philosophie als das Maß betrachtet, das angibt „bis zu welcher unteren und oberen Grenze eine quantitative Veränderung stattfinden kann, ohne dass eine Qualitätsänderung eintritt. Überschreiten die quantitativen Veränderungen diese Grenze, so hört das Maß auf, Maß des gegebenen Gegenstandes zu sein. Es kommt zu einer qualitativen Veränderung des Gegenstandes.” (130)
Wird dieses Maß verändert, dann hört das Völkerrecht auf, Recht zu sein. Deswegen ist die Verteidigung der Völkerrechtsnormativität die ureigenste und Vornehmste Aufgabenstellung der Völkerrechtler.
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125. Bezüglich der allgemeinmenschlichen Werte vgl. W. I. Jewintow, Obschtscheprisnannyje normy meschdunarodnogo prawa i ideologitscheskaja borba,in : Sowjetkoje gossudarstwo prawo, i Nr. 7, Moskwa 1983, S. 118.
126. Vgl. G. W. Ignatenko—D. B. Ostapenko, Meschdunarodnoje prawo, a. a. O., S. 7.
127. So G. Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova 1963 (dieser Normenkomplex stellt die internationale Rechtsordnung dar), p. 6 ; R. Monaco, Diritto Internazionale, in : Grande Dizionario Enciclopédico, VI, Torino 1968, p. 383 und T. Gihl, The legal Charakter and Sources of international Law, in : Scandinavian Studies in Law, Vol. I. Uppsala 1957, p. 51. 128
128. Vgl. hierüber ausführlich : K. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, Hamburg, Frankfurt/M.1967, S.461 ff ; H. Neuhold, Internationale Konflikte—verbotene und erlaubte Mittel ihrer Austragung, Wien, New York 1977, S.6 ff. ;K. B. Baum, Die soziologische Begründung des Völkerrechts als Problem der Rechtssoziologie, in : Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1970, S. 261 ff.
129. Die Völkerrechtsnormativität gegen verschiedene Verwässerungsversuche („soft law” etc.) wird von P. Weil vehement und überzeugend verteidigt. Vgl. Vers une normativité relative en droit international ? in: Revue général de droit international public, Tome 86, No.1, Paris 1982, p. 44—46.
130. G. Bartsch—G. Klimaszewski, Materialistische Dialektik—ihre Grundgesetze und Kategorien, Berlin 1975, S. 176—177.
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3cc) Politisch-rechtliche und politisch-nichtrechtliche Normen als unterschiedliche Ergebnisformen des Normenbildungsprozesses
3cca) Die politisch-rechtlichen Normen als Ergebnisform des Normenbildungsprozesses
Auch in diesem Abschnitt gilt es, die neuen bzw. neuesten Erkenntnisse der Rechtstheorie zu berücksichtigen und sie natürlich unter Beachtung der Besonderheit des völkerrechtlichen Normbildungsprozesses für die Zwecke der Erarbeitung einer Normbildungstheorie zu verwerten.
Die einzelne Rechtsnorm steht im innerstaatlichen Recht mit dem Recht in einem Wechselverhältnis, „das Beziehungen zwischen Allgemeinem und Einzelnem ausdrückt”. Dabei umfasst das Recht nicht alle Besonderheiten der einzelnen Rechtsnorm ; die Rechtsnormen gehen „nicht vollständig im Begriff des Rechts auf”. (131) Die einzelne Rechtsnorm ist „die kleinste sinnvolle Einheit des Systems des geltenden objektiven Rechts, für die die allgemeinen Eigenschaften des Rechts zutreffen”. (132)
Es handelt sich um folgende Eigenschaften :
a) Die Allgemeinheit (Generalität). Sie bedeutet in erster Linie, dass die Rechtsnormen für mehrfache Anwendung durch die Rechtssubjekte bestimmt sind und für ihr Verhalten gleiche Maßstäbe setzen. Es wird also von den konkreten Sachverhalten abstrahiert und es werden ungleiche, aber gleichartige Rechtssubjekte und Vorgänge am gleichen Maßstab gemessen. Die Allgemeinheit bedeutet ferner, dass die in den Rechtsnormen fixierten Handlungsaufforderungen abstrakten Charakter besitzen. Sie existieren somit noch nicht als konkrete Rechte und Pflichten eines konkreten Rechtssubjekts. Die allgemeinen Verhaltensmaßstäbe werden individualisiert ;
b) die Rechtsnormen haben außerdem Aufforderungscharakter, der von verschiedener Intensität und Schärfe sein kann.Hieraus ergibt sich, dass die Rechtsnorm ein allgemeinverbindlicher und formalbestimmender allgemeiner Verhaltensmaßstab ist. ( 133) Diese rechtstheoretischen Erkenntnisse können m. E., etwas differenziert, auf das Völkerrecht angewandt werden.
In einem hohen Abstraktionsgrad stellt die Rechtsnorm auch im Völkerrecht die kleinste sinnvolle Einheit und die „primäre Zelle”(134 ) dar.
Während aber die Eigenschaften der Allgemeinheit, Allgemeinverbindlichkeit und Abstraktheit für alle Jus-cogens- Normen, vor allem für die Grundprinzipien gelten, ist dies bei konkreten Vertragsnormen nicht unbedingt der Fall. (135) Die Eigenschaft hingegen, Verhaltensmaßstab zu sein, gilt für alle Rechtsnormen. Ähnlich verhält es sich auch mit den Elementen einer Rechtsnorm, die nach gängiger Auffassung drei Bestandteile haben soll : a) Prämisse (Hypothese), die angibt, unter welchen
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131. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtsthehorie, Berlin1980, S. 521.
132 W. Grahn, Die Rechtsnorm— eine Studie, Leipzig 1979, S. 6. Seiner Kritik an der Beschränkung der Rechtsnorm auf die Begründung von Rechten und Pflichten ist zu folgen.
133. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, a.a.O., S.5 22, 589 und Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Band 1, Berlin 1974, S. 253, 256.
134. Vgl. auch I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno-prawowogo regulirowanija, Kiew 1980, S. 30.
135. In der Fachliteratur werden jedoch diese Eigenschaften der Rechtsnormen oft undifferenziert behandelt. Vgl. u. a. : I. I. Lukaschuk, ebenda, S. 27—37 ;
K. Skubiszewski, Rechtscharakter der Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in : Fünftes deutsch-polnisches Juristen-Kolloquium, Hrsg. R. Bernhardt—J. Delbrück—I. v. Münch—W. Rudolf, Baden-Baden 1981, S. 13 ; G. Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova1963, p. 57 ; E. Yemin, Legislative powers in the United Nations and specialized agencies, Leyden1969, p. 5— 6. Die genannten Autoren wollen den Rechtsnormen die Eigenschaften Allgemeinheit und Allgemeinverbindlichkeit zuerkennen.
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Bedingungen eine Rechtsnorm verwirklicht werden muss und festlegt, unter welchen Umständen und Bedingungen für welche Rechtssubjekte Rechte und Pflichten entstehen ; b) Disposition (Erlaubnis, Gebot, Verbot), die das Verhalten festlegt, das beim Vorliegen der Prämisse vom betreffenden Rechtsnormadressaten verbindlich gefordert wird und enthält somit die eigentliche Verhaltensregel ; c) Sanktion. Sie bestimmt die Rechtsfolgen, die für jeden Normadressaten eintreten, der die Disposition verletzt oder nicht verwirklicht. Da es aber schwierig ist, in jedem Artikel und jedem Paragraphen diese Elemente deutlich zu finden, wird vorgeschlagen, etwas differenzierter vorzugehen :
Im Strafrecht sollte die Dreiteilung aufrechterhalten bleiben ; in den anderen Rechtsdisziplinen sollte nur eine Zweiteilung (Prämisse und Disposition) akzeptiert werden. (136 ) Die Dreiteilung bleibt nicht unwidersprochen, weil durch sie ohnehin nicht festgestellt werden kann, die Hypothese und Disposition meistens zu einem Element verschmelzen und weil eine Sanktion für mehrere Dispositionen in Frage kommt. (137)
Der schwerfälligen und nicht überzeugenden Dreigliederungskonzeption ist jene dynamische und logische vorzuziehen, nach der die Rechtsnorm aus einem Tatbestandteil und einem Folgehandlungsteil (hauptsächlich Sanktionen) mit einem Operator besteht. „Für gleichartige Situationen und Bedingungen (Tatbestand) gebietet, verbietet oder erlaubt(Operator) sie ein angegebenes Verhalten (Folgehandlung).” (138) Dabei gestattet der Operator („ist verpflichtet”, „darf”,„ist verboten”, „muss”), eindeutig Normen von allgemeinen Aussagen, Werturteilen und Fragen zu unterscheiden. (139) Im Prinzip kann diese moderne Konzeption von der Rechtsnormstruktur übernommen und auf das Völkerrecht angewandt werden. Zugleich ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Folgehandlungsteil (Sanktionen) nicht in jeder Rechtsnorm, sondern vielmehr im Völkerrechtssystem(Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit) enthalten ist. Ginge man von der Dreigliederung aus, so wäre es m. E. kaum möglich, alle drei Elemente in einer Völkerrechtsnorm zu finden, weil die Mehrzahl der Völkerrechtsnormen nur eine Disposition enthalten.( 140) Deshalb ist im Völkerrecht die Dreigliederungsthese abzulehnen. (141 )
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136. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 529— 530.
137. Vgl. H. Klenner, Grundsatzprobleme im Vorfeld einer Rechtsbildungstheorie, In : K. A. Mollnau (Hrsg.), Probleme einer Rechtsbildungstheorie, Berlin 1982, S. 27.
138. W. Grahn, Recht als eine besondere Widerspiegelung der Gesellschaft, in : Staat und Recht, Nr. 2, Berlin 1982, S. 162. Derselbe, Die Rechtsnorm— eine Studie. Leipzig1979, S. 5, 21
139. Vgl. H. Klenner, Zur logischen Struktur sozialistischer Rechtsnormen (Thesen), in : Wissenschafliche. Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jena1966, S. 451 ff.
140. Vgl. I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno-prawowogo…, a. a. O., S. 30.
141. Sie wird von S. W. Tschernitschenko mit besonderer Vehemenz verteidigt. Er meint u. a., dass kein Element fehlen darf, sonst handle es sich um keine Völkerrechtsnorm. Vgl. Normy meschdunarodnogo prawa, ich sosdanije i osobennosti ich struktury, in : Sowjetskij jeschegodnik meschdunarodnogo prawa1979, Moskwa 1980, S. 54. Ähnlich auch N. W. Mironov, Meschdunarodnoje prawo : normy i ich juriditscheskaja sila, Moskwa 1980, S. 30.
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Unabhängig von der Anzahl der Rechtsnormbestanteile stellt die Rechtsnorm eine einheitliche Verhaltensvorschrift und ein einheitliches Ganzes dar. (142) Sie hat damit Widerspiegelungs- und Gestaltungsfunktion. (143) Als Verhaltensvorschriften realisieren sich die Rechtsnormen vorwiegend in Rechtsverhältnissen. Hieraus ist ersichtlich,da Rechtsnormen und Rechtsverhältnisse einen unlöslichen Zusammenhang bilden. (144)
Das heißt aber nicht, dass die Rechtsverhältnisse in den Rechtsnormbegriff einbezogen werden dürfen, weil sie sich auf die Realisierungsseite und nicht auf den Inhalt der Rechtsnorm erstrecken. Die Rechtsverhältnisse sind vielmehr die Hauptform, in der das Völkerrecht seine regulierende Funktion ausübt. (145) In der Rechtstheorie wird zwischen den Rechtsnormen und den Rechtsprinzipien unterschieden. Durch die Rechtsnormen existieren die Rechtsprinzipien, deren Besonderheit darin besteht, „dass sie unbestimmter in der Angabe des gesollten Verhaltens als viele Rechtsnormen sind, dafür aber von grundlegender Bedeutung. Hinsichtlich der Bestimmtheit der Verhaltensaufforderung und der Bedeutung der Aufforderung unterscheiden sich Rechtsnormen und Rechtsprinzip.” (146) Diese rechtstheoretische Unterscheidung kann für die Zwecke des Völkerrechts übernommen werden, weil sie im Prinzip einleuchtet. Das würde dann bedeuten, dass die Prinzipien sowohl hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches wie auch hinsichtlich der Anwendungssituation sowie der von ihnen vorgesehenen Rechte und Pflichten allgemeiner, umfangreicher und von größerer Bedeutung als die Normen sind, die eigentlich die Prinzipien spezifizieren. Zwischen ihnen gilt somit das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. (147) So ist es beim völkerrechtlichen Prinzip des Selbstbestimmungsrechts und der Gleichberechtigung der Völker, das sich in vielen speziellen Normen realisiert. In diesem Falle geht es also um ein Verhältnis zwischen unterschiedlich wichtigen Erscheinungen, die aber im Blickwinkel des gesamten Völkerrechtssystems gesehen, rechtliche Normen darstellen, die dann unterschieden werden können : Grundnormen und spezielle Normen, die m. E. als Synonyme mit den Begriffen Grundprinzipien und spezielle Prinzipien zu betrachten wären.
Hiermit entsteht das Normenhierarchieproblem im Völkerrecht. Die Normenhierarchie ergibt sich aus der inneren Struktur des Rechts, aus dem Begriff des Rechts als eines Systems von Normen, aus dem strukturellen Begriff der Systemkategorie als solcher und aus der Verbindung und gegenseitigen Abhängigkeit der durch die Rechtsnormen erfassten und geregelten Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Somit ist die Normenhierarchie
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142. Das ist m. E. entscheidend und nicht so sehr die Frage, ob die Rechtsnorm eine Willenskoordinierung oder eine Willensübereinstimmung darstellt. Vgl ähnlich auch I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno-prawowogo…, a. a. O., S. 29.
143. Vgl. auch O. Kimminich, Völkerrecht im Atomzeitalter, Der Atomsperrvertrag und seine Folgen, Freiburg im Breisgau1969, S. 309.
144. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin1980, S. 585.
145. Vgl. auch I. I. Lukaschuk, Otnoschénija mirnogo sosustschestwowanija i méschdunarodnoje prawo, Kiew1974, S. 135.
146. W. Grahn, Die Rechtsnorm— eine Studie, a.a.O., S. 56—57
147. Eine ähnliche Auffassung vertreten mehrere Völkerrechtler : V.Outrata, K pojmu obecnych a základnich zásad mezinárodniho práva, in : Casopis pro mezinárodní právo, Nr. 3, Praha 1961, S.191 ; N. N. Uljanowa, Obstschi je mnogostoronnije dogowory w sowremennych meschdunarodnych otnoschenijach, Kiew1981, S. 106—107 ; T. Gihl, The legal Character and Sources of international Law, a. a. O., p. 91.
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das Ergebnis des dialektischen Aufbaus des Rechts, seiner Kategorien, der Existenz von Strukturbeziehungen, verschiedener Ebenen und Ordnungen.
Die Hierarchie ist aber nicht identisch mit der Subordination, weil es bei der Hierarchie um die Herkunft und die Kategorie der Normen geht, während sich die Subordination auf das Prioritätsverhältnis zwischen den Normen bezieht.
Dennoch besteht zwischen der Hierarchie und der Subordination von Normen ein enges Verhältnis. Die Normenhierarchie gestattet es, sich bei der großen Anzahl der Normen zu recht zu finden. (148) Die gründlichsten Rechtsnormenklassifizierungsversuche haben m. E. sowjetische Völkerrechtler unternommen. (149) Die Vielzahl der normierten Bereiche der internationalen Beziehungen lässt mehrere und relativ umfangreiche Rechtsnormenklassifizierungssysteme entstehen, deren praktischer Nutzen und theoretische Bedeutung jedoch nicht in jedem Falle überzeugend sind.
Es kommt vielmehr auf die Bedeutung einer konkreten Völkerrechtsnorm für die Erhaltung des Weltfriedens an. Sind bestimmte Völkerrechtsnormen für die Friedenssicherung unabdingbar, dann sollte ihnen die Qualität der Grundnormen (Grundprinzipien) zuerkannt werden, um eben ihre herausragende Bedeutung gegenüber den anderen Rechtsnormen zu unterstreichen. Diese Unterscheidung scheint zweckmäßiger zu sein als jene übliche zwischen dem Jus cogens und dem Jus dispositivum, weil zu den Jus-cogens-Normen außer den Grundprinzipien weitere Prinzipien gehören. (150)
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148.Vgl. hierzu die gründlichen Untersuchungen von N. W. Mironow, Meschdunarodnoje prawo : normy i ich juriditscheskaja sila, Moskwa 1980, S. 24—2638/39.
149. I. I. Lukaschuk, Mechanism…, a. a. O., S. 38, klassifiziert die Völkerrechts- normen in Großen und Ganzen nach folgenden Kriterien : a) nach der juristischen Kraft (imperative, dispositive) ; b) nach dem Geltungsbereich (universelle, regionale, lokale) ; c) nach der Teilnehmerzahl (mulilaterale, Gruppennormen, bilaterale) ; d) nach den Subjekten (Staaten, internationale Organisationen) ; e) nach dem Grad der Verallgemeinerung (allgemeine, spezielle) ; f) nach der Art und Weise der Schaffung und der Existenzform (vertragliche, gewohnheitsrechtliche) ; g) nach der Regelungsmethode (verpflichtende, verbietende, ermächtigende). N. W. Mironow, Meschdunarodnoje prawo : Normy…, a. a. O., S. 29, nimmt eine andere Normenklassifizierung vor : a) nach der Natur und dem Charakter (imperative,dispositive, empfehlende, appellierende, deklarative, alternative, fakultative, ständige, zeitweilige) ; b) nach dem Geltungsbereich (universelle, allgemeine regionale) ; c) nach den zu erfüllenden Funktionen : (zunächst materielle und prozessuale und dann weitere Unterteilung nach der Realisierungsmethode empfehlende, schlichtende, ermächtigende, verpflichtende, verbietende usw.). Hierzu ist zu sagen, dass „empfehlende”, „appellierende” und„deklarative” Normen eigentlich politisch-nichtrechtliche Ergebnisformen des Willens bzw. Normbildungsprozesses sind. Man sollte daher solche Adjektiva nicht unbedingt auf die Rechtsnormen anwenden. A. S. Gaverdowskij, der offenkundig Arbeitsergebnisse I.I. Lukaschuks und anderersowjetischer Völkerrechtler umfangreich verwertet, hat zwar ein fast perfektes, jedoch kaum überschaubares Klassifizierungssystem entwickelt. Vgl. Implementazija norm meschdunarodnogo prawa, Kiew 1980, S.20—21, 26—30, 47 Er nennt u. a. auch die„empfehlenden” Normen (S. 30). Dieser Meinung kann ebenfalls nicht zugestimmt werden. G.Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova 1963, p. 54—66 klassifiziert die Völkerrechtsnormen nach anderen Kriterien : Hinsichtlich des Kreises derer, für die die Normen gelten ; bezüglich des Normgegenstandes ; bezüglich der jeweiligen Position der Destinatare etc.
150. Vgl. P. Terz, Zum Jus cogens im demokratischen Völkerrecht, in : Staat und Recht, Nr. 7, Berlin 1978, S. 617. Zur Kritik entsprechender bürgerlicher Auffassungen Vgl. E. J. B. Koloma, Kritische Analyse bürgerlicher Auffassungen über das Jus cogens im Völkerrecht der Gegenwart, Dissertation A, Leipzig 1981 und P. Terz, Bürgerliche Auffassungen über Grundprinzipien und jus cogens im Völkerrecht, in : Neue Justiz, Nr. 7, Berlin 1983, S. 279 ff.
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Unter Zugrundelegung der UNO-Prinzipiendeklaration von 1970 kann davon ausgegangen werden, dass es gegenwärtig sieben völkerrechtliche Grundprinzipien gibt. Zu den wichtigsten Merkmalen der Grundprinzipien des Völkerrechts liegen zwar relativ viele Publikationen hauptsächlich sowjetischer Völkerrechtler vor. Es fehlen jedoch die der überragenden Bedeutung der Grundprinzipien adäquaten Systematisierungskriterien.
Hier soll daher der Versuch unternommen werden, die Bedeutung der Grundprinzipien
nach bestimmten notwendigen Kriterien herauszuarbeiten. :
a) Nach ihrer Bedeutung allgemein in den internationalen Beziehungen stellen : eine Widerspiegelung der Hauptziele der internationalen Zusammenarbeit, der grundlegenden allgemeinen Interessen und der ideologischen Hauptrichtungen des gesamten Systems der internationalen Beziehungen und einen Garant der legitimen Rechte und Interessen der Völker dar. (151)
b) Nach ihrer Bedeutung speziell für das Völkerrecht : die Grundprinzipien sind Hauptkern und normative Eckpfeiler des Völkerrechts, Ausdruck der inneren Grundlage des gesamten Völkerrechtssystems und des Hauptinhalts des Völkerrechts ; (152) sie stellen weiter orientierende Richtlinien für die Weiterentwicklung des Völkerrechts dar und zeigen überhaupt die Hauptrichtungen der Entwicklung des Völkerrechtssystems an ; (153) sie können in der Tat bezüglich der überragenden Bedeutung mit den Verfassungsprinzipien im „innerstaatlichen Recht“ verglichen werden ; (154) sie sind ein „Mindeststandard jeder rechtmäßigen Gestaltung internationaler Beziehungen”, (155) ein stabiler Faktor der internationalen zwischenstaatlichen Beziehungen, (156) sie besitzen eine funktionale und strukturelle Rolle im Völkerrechtssystem und sind in diesem Rahmen unabdingbar für das normale und effektive Funktionieren des völkerrechtlichen Regulierungssystems ; (157)sie sind derart unentbehrlich in den internationalen zwischenstaatlichen Beziehungen, dass ihre Negierung der Leugnung des Völkerrechts gleichkäme ; (158) sie können ferner als eine wichtige Grundlage für die Mobilisierung der Volksmassen zur Durchsetzung des Völkerrechts betrachtet werden. (159)
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151. Vgl. auch I.I. Lukaschuk, Mechanism…, a. a. O., S. 40, 56, 60,162. Vgl. auch : Meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1974, S.152 ; A.S. Gawerdowskij, Implementazija norm…, a. a. O., S. 22 ; A. N. Talalajew, Juriditscheskaja priroda meschdunarodnogo dogowora, Moskwa1963, S. 171; Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, Berlin1981, S. 109 ; E. A. Puschmin, O ponjatii osnownych prinzipow sowremennogo obstschego meschdunarodnogo prawa, in : Sowjetskij jeshegodnik meschdunarodnogo prawa, in : Sowjetskij jeschegodnik meschdunarodnogo prawa 1978, Moskwa 1980, S. 83 ; R. R. Bobrow, Sowremennoje meschdunarodnoje prawo (objektiwnyje predpossylki i sozialnoje nasnatschenije), Leningrad 1962, S. 71.
153. Vgl. auch : B. Graefrath, O meste prinzipow w sisteme sowremennogo meschdunarodnogo prawa, in : Prawowedenije, Nr. 2, Leningrad 1969, S. 113 ; E. A. Puschmin, O ponjatii osnownych prinzipow…, a. a. O., S. 76.
154. Vgl. auch R. L. Bobrow, Sowremennoje meschdunarodnoje prawo…, a. a. O., S. 76.
155. Vgl. auch Völkerrecht, Lehrbuch, Teil1, Berlin 1981, S. 106.
156. Vgl. auch : B. Graefrath, Zur Stellung der Grundprinzipien im gegenwärtigen Völkerrecht, Berlin1968, S. 24 ; G. W. Ignatenko, Meshdunarodnoje prawo i obstschestwennyi progress, Moskwa1972, S.75.
157. Vgl. Auch : E. A. Puschmin, O ponjatu osnownych prinzipow…, a. a. O., S. 83 ; D. I. Feldman—G.I. Kurdjukow—W. N.Lichatschow, O sistemnom podchode w nauke meschdunarodnogo prawa , in : Prawowedenije, Nr. 6, Leningrad 1980, S. 46 ; I. I. Lukaschuk, Mechanism…, a. a. O., S. 28, 56.
158. Vgl. auch N. W. Mironov, Meschdunarodnoje prawo : Normy…, a. a. O., S. 89.
159. Vgl. auch K. Becher, Die Grundprinzipien des demokratischen Völkerrechts und ihre Bedeutung für das Völkerrechtssystem, in : Deutsche Außenpolitik, Nr. 1, Berlin 1982, S. 92.
160. Vgl. auch E.A. Puschmin, O ponjatii osnownych prinzipow…, a.a.O., S. 83 ; Meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1974, S. 152.
161. Vgl. auch I.I.Lukaschuk, Elementarnyje normy wsaimootnoschenij sozialistitscheskich i i kapitalistitschechkich gossudarstw, in : Westnik Kiewskogo Universiteta, ser. Meschdunarodnyje otnoschenija i meschdunarodnoje pravo, Nr. 10, Kiew 1980, S.20.
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c) Nach ihrer Bedeutung speziell für die anderen Prinzipien und Normen des Völkerrechts : Die Grundprinzipien bestimmen den Inhalt der anderen völkerrechtlichen Prinzipien und Normen und sind Maßstab, an dem die Völkerrechtsmäßigkeit anderer Prinzipien und Normen gemessen wird und auch unentbehrlich für ihre Auslegung. (160) Infolgedessen haben die anderen Prinzipien und Normen mit den Grundprinzipien in Übereinstimmung zu stehen (Artikel 103 der UNO-Charta), andernfalls sind sie von Anfang an (ab initio, ex tunc) rechtsungültig (Artikel 53 der Wiener Vertragsrechts-konvention von 1969).
d) Unter Berücksichtigung ihres Charakters : Die Grundprinzipien besitzen im Völkerrecht die höchste politische, moralische und vor allem juristische Kraft (161) und stehen damit an der Spitze der Prinzipienhierarchie ; (162) sie besitzen einen allgemeinen bzw. allgemeindemokratischen Charakter ; (163) sie stellen allgemeinanerkannte, allgemeinverbindliche Normen mit einem unbegrenzten Adressatenkreis (164) dar ; siesind verpflichtende und verbietende Normen ; (165) die Grundprinzipien besitzen ferner einen Jus-cogens-Charakter, d. h. sie sind für alle Staaten zwingend verbindlich und von ihnen darf daher nicht abgewichen werden. Hierbei handelt es sich um ein Nichtabweichen im doppelten Sinne : Einmal darf ein Staat ein Grundprinzip für sich selbst auch durch ausdrückliche Erklärung oder durch konkludentes Verhalten nicht ausschließen. Zweitens dürfen Grundprinzipien auch nicht freiwillig durch Verträge zwischen den Staaten aus ihren Beziehungen zueinander ausgeschlossen werden. Durch den Jus-cogens-Charakter der Grundprinzipien werden die Einhaltung des Aggressions- und Annexionsverbotes, die Förderung der friedlichen internationalen Zusammenarbeit, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten und ein interventionsfreies Zusammenwirken der Staaten bei der Lösung der verschiedenen Probleme gewährleistet ; (166) die Grundprinzipien stellen schließlich, obwohl jedes einzelne von ihnen eine relative Selbständigkeit besitzt, ein einheitliches Ganzes, also ein System dar. (167) Daher ist das wesentliche Merkmal des Systems der völkerrechtlichen Grundprinzipien ihre Abgeschlossenheit und Koordiniertheit. (168)
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162. Vgl. auch K. Becher, Die Grundprinzipien des demokratischen Völkerrechts…,a. a. O., S. 92.
163. Vgl. auch : G. I. Tunkin, Woprossy teorii meschdunarodnogo prawa, Moskwa 1962, S. 157 ; W. A. Masow, Prinzipy Chelsinki i meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1980, S. 19.
164. Vgl. auch : D. I. Feldmann—G. I. Kurdjukow—N. Lichatschow, O sistemnom podchode…, a. a. O., S. 46 ; E. A. Puschmin, O ponjatii osnownych prinzipow…, a. a. O., S. 83.
165. Vgl. auch R. L. Bobrow, Sowremennoje meschdunarodnoje prawo, a. a. O., S. 73.
166. Vgl. Völkerrecht, Lehrbuch, Teil 1, Berlin 1981, S. 104.
167. Vgl. auch Meschdunarodnoje prawo, Moskwa 1974, S. 152 und Völkerrecht, Lehrbuch, a. a. O., S. 103—104.
168. Vgl. E. T. Rulko, Ponjatije structury meschdunarodnogo prawa (metodologitscheskije aspekty), in : Westnik Kiewskogo universiteta, a. a. O., Nr. 10, Kiew 1980, S. 27 ff.
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Aus dem Systemcharakter der Grundprinzipien ergibt sich ihre rechtliche Gleichwertigkeit. Dies schließt, m. E. aber nicht aus, dass unter bestimmten historischen Bedingungen eines der sieben Grundprinzipien in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, eine prononciert aktuelle Bedeutung gewinnt und, so betrachtet, etwas wichtiger als die anderen Grundprinzipien sein kann. Während z. B. in den 60er Jahren im Rahmen der weltweiten Bestrebungen zur Beseitigung des Kolonialismus das Grundprinzip der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen im Zentrum der internationalen Klassenauseinandersetzung stand, spielt gegenwärtig das Grundprinzip des Gewaltandrohungs- und -anwendungsverbots angesichts der akuten Friedensbedrohung eine dominierende Rolle. (169)
Die Grundprinzipien zeichnen sich genauso wie das gesamte System des Völkerrechts durch eine hohe Dynamik und Anpassungsfähigkeit aus. Hieraus ergibt sich, dass sowohl die bereits vorhandenen Grundprinzipien weiter entwickelt und konkretisiert werden, als auch sukzessive neue Grundprinzipien entstehen können. Entscheidend ist dabei, dass ein solcher Prozeß sich auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen universellen Charakters, so etwa im Sinne der Artikel 53 und 64 der Wiener Vertragskonvention vollzieht. So könnte in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlicher Bedürfnisse und Notwendigkeiten das Grundprinzip der Abrüstung entstehen, das immer noch einen politisch-moralischen Charakter besitzt. Hierzu bedarf es allerdings weiterer harter Auseinandersetzungen zwischen den Staaten der beiden Weltsysteme, deren Zustimmung zu einem neuen Grundprinzip unabdingbar ist.
Dies ergibt sich konsequenterweise aus der friedlichen Koexistenz und dem Kompromisscharakter des Völkerrechts. Meines Erachtens sollte jedoch nicht so sehr auf die rasche Entstehung neuer Grundprinzipien orientiert werden. Es geht vielmehr um die unbedingte Durchsetzung der bereits vorhandenen Grundprinzipien. Abgesehen davon, könnte durch eine Flut neuer Grundprinzipien der politische und juristische Wert der sieben Grundprinzipien erheblich herabgemindert werden.
Die konkreteste juristische Ergebnisform des Normenbildungsprozesses ist der völkerrechtliche Vertrag, durch den völkerrechtliche Rechte und Pflichten begründet bzw. übernommen werden. Er ist das juristische Hauptinstrument zur rechtlichen Regulierung der Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten, d. h. in erster Linie zwischen den Staaten aber auch zwischen den internationalen staatlichen Organisationen.
Der völkerrechtliche Vertrag wird vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er durch das Völkerrecht bestimmt wird und die Staaten in erster linie durch ihn neues Völkerrechtschaffen. (170)
Eine besondere Kategorie des völkerrechtlichen Vertrages, der multilaterale Vertrag universellen Charakters, ist durch seine große Bedeutung für den Weltfrieden, die internationale Sicherheit und die friedliche internationale Zusammenarbeit sowie durch seine Akzeptierung und Annahme durch die internationale Staatengemeinschaft charakterisiert. (171)
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169. In der Schrift von K. Meier, Herausbildung, Inhalt und Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Gewaltverbots im Zusammenhang mit Rechtsfragen der Rüstungsbegrenzung und der Abrüstung, Dissertation B (Habilitation), Leipzig 1983 wird aus der gelungenen Verbindung des Gewaltverbotsprinzips mit der Abrüstungsmaterie d. h. mit einem globalen Problem der Menschheitsentwicklung eindeutig klar, dass dieses Prinzip auch auf Grund seiner Nähe zum politischen Grundprinzip der Friedenssicherung an der Spitze der Hierarchie der völkerrechtlichen Grundprinzipien steht.
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170.Vgl. ausführlicher P. Terz, Die Rolle des völkerrechtlichen Vertrages in der Gegenwart, in: Neue Justiz, Nr. , Berlin1980, S. 106 ff.
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Eine spezifische Kategorie des multilateralen Vertrages universellen Charakters ist wiederum der Kodifizierungsvertrag, durch den der internationale juristische Willens- bzw. Normenbildungsprozeß zielgerichtet vorangetrieben und realisiert wird. Diese Vertragskategorie zeichnet sich durch die Universalität des zu regelnden Objekts und die Einheitlichkeit der juristischen Regulierungsbestimmungen aus.
Weitere Ergebnisformen des juristischen Normenbildungsprozesses und zugleich eine juristische Vereinbarung sui generis sind das Pactum de negotiando (Verpflichtung zum Verhandeln), d. h. die vereinbarte Rechtspflicht der Staaten, über sie gemeinsam interessierende Fragen Verhandlungen zu führen oder bereits aufgenommene Verhandlungen fortzusetzen und das Pactum de contrahendo (Verpflichtung zum Vertragsabschluß), d. h. die vereinbarte Rechtspflicht der Staaten, über sie gemeinsam interessierende Fragen einen Vertrag abzuschließen. (172)
Die ebenfalls zu den juristischen Ergebnisformen des Normbildungsprozesses gehörenden Völkergewohnheitsrecthsnormen weisen bezüglich der Entstehung und dann der allmählichen Erweiterung ihres Geltungsbereichs gegenüber den anderen Rechtsnormen einige Besonderheiten auf. Zunächts ist z. B. darauf hinzuweisen, dass sie von relativ wenigen Staaten als solche akzeptiert und anerkannt werden. Dies erfolgt auf konsensueller Basis. Die erste Phase des Consensus bezieht sich auf das Vorliegen einer Gewohnheit. Hierbei geht es also um einen Consensus über die Auffassungen über das Bestehen einer Gewohnheit. Die Auffassungen wurzeln in gleichgearteten Bedürfnissen, die wiederum die Grundlage für ähnliche Interessenlagen bilden. (173) In der zweiten Phase erstreckt sich der Consensus der Staaten auf den Inhalt der Gewohnheit.
In der dritten Phase geht es beim Staatenconsensus um die Bedeutung der Gewohnheit, d. h. dass sie überhaupt von Bedeutung ist. Der Bedeutungsgrad kann dennoch unterschiedlich sein. Erst in der vierten Phase wird ein Consensus darüber erzielt, dass die Gewohnheit bereits die Qualität einer Rechtsnorm erreicht hat. Dieser Prozeß ist dialektischer Natur, denn er vollzieht sich allmählich und impliziert zwei sich wechselseitig bedingende Elemente, nämlich ein stabiles Verhaltensmuster (Übung, Praxis)
Der betreffenden Staaten und die ihren Willen zum Ausdruck bringende Rechtüberzeugung (opinio iuris). Die Staaten verhalten sich in gleicher Weise.(174) d. h. der Censensus kommt durch übereinstimmendes Verhalten zustande. (175)
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171. Vgl. hierzu vor allem N. N. Uljanowa, Obstschije mnogostoronnije dogowory w sowremennych meschdunarodnych otnoschenija, Kiew 1981.
172. Vgl. hier zu : M. de la Muela, Pacta de contrahendo en Derecho internacional Público, in : Revista Española De Derecho Internacional, Vol. XXI, Num. 2, Madrid 1968, p. 392 ; M. Loic, La notion de „pactum de contrahendo” dans la jurisprudence internationale, in : Revue général de droit international Public,
Vol. 78, No. 2, Paris 1974, p. 351; P. Terz, A pactum de negotiando és pactum de contrahendo lényege és jelentosége a nemzetközi jogban, in : Jogtudományi Közlöny, Nr. 4, Budapest 1982, S. 320. system-history
173. Vgl. teilweise auch B.J. Theutenberg, Changes in the norms guiding the international legal and contemporary trends, in : Nordisk Tidsskrift for international Ret, Acta scandinavica juris gentium, Vol. 50, No. 1—2, Kobenhavn 1981, p. 29.
174. Vgl. auch L. A. Podesta Costa—J. M. Ruda, Derecho Internacional Publico, 1, Buenos Aires 1979, p. 15.
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Da keine Verhandlungen stattfinden, erfolgt der Interessenausgleich in indirekter Form.
In der fünften Phase liegt zwischen den Staaten ein Consensus darüber vor, dass sie sich nach der nun existierenden Gewohnheitsrechtsnorm richten werden.
Bisher ging es um den Entstehungsprozeß einer Völkergewohnheitsrechtsnorm. Normbildungstheoretisch entstehen aber einige Probleme, wenn eine solche Norm bereits existiert und ihr Geltungsbereich erweitert werden soll. In seltenen Fällen erkennen andere Staaten eine Gewohnheitsrechtsnorm expressis verbis an. Vielmehr bringen sie in erster Linie durch ein bestimmtes Verhalten ihr Einverständnis (Zustimmung) mit ihr zum Ausdruck. In einem solchen Falle wird der Consensus auf indirektem Wege erreicht, d. h. sie konsentieren mit dem Ergebnis des Consensus der die Norm schaffenden Staaten. Hier bleiben irgendwelche Verhandlungen ebenfalls aus.
Bei den Völkergewohnheitsrechtsnormen entsteht somit das theoretische Problem der Willenskoordinierung bzw. -übereinstimmung nicht. Spätestens an dieser Stelle ist klar geworden, dass das Wesen der Gewohnheitsrechtsnormen vermittels der Tunkinschen vereinbarungstheoretischen Konzeption nicht erfasst werden kann. (176) Es ist auch deutlich geworden, dass hier die in der Fachtliteratur verbreitete Trennung von Praxis („objektiv”) und opinio iuris („subjektiv”) (177) als schematisch abgelehnt wird.
Da es bei den Gewohnheitsrechtsnormen um die Zustimmung von souveränen Staaten geht, kann letzten Endes die durch ihr Verhalten zum Ausdruck gebrachte Rechtsüberzeugung das entscheidende Element bei der Herausbildung und beim Akzeptieren einer Völkergewohnheitsrechtsnorm sein. (178) Dem konsensualen Charakter des Völkergewohnheitsrechts widerspricht die bereits Mitte der 60er Jahre entstandene These von einem „instant customary law” („spontan entstehendes Gewohnheitsrecht”), (179) das sehr an das „diritto spontaneo” (180) der italienischen Völkerrechtslehre erinnert, und in der Völkerrechtsliteratur teilweise eine positive Einschätzung findet. (181)
In der in der vorliegenden Studie erarbeiteten normbildungstheoretischen ist ferner für ein „revolutionäres Gewohnheitsrecht” („coutume révolutionnaire”) (182) ebenfalls kein Platz.
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175. Vgl. auch A. J. P. Tammes, Soft law, in : Essays on international and comparative law in honour of judge Erades, The Hague 1983, p. 194.
176. G. I. Tunkin ist sich dieses Problems bewußt, wenn er schreibt : „Das Wesen des Prozesses der Herausbildung einer Gewohnheitsnorm des Völkerrechts besteht nicht in Verhandlungen, sondern… in der Herausbildung einer Vereinbarung zwischen den Staaten…”. Vgl. Das Völkerrecht der Gegenwart, Berlin 1963, S. 136. Die „Vereinbarung” ist aber ein feststehender juristischer Terminus Technicus, der m. E. nicht ohne weiteres auch für konsensuale Prozesse ohne Verhandlungen angewandt werden kann. (177)
177. Paradigmatisch seien genannt : M. S. Vázquez, Derecho Internacional Público, Mexico 1979, p. 70 ; G. R. Moncayo—R. E. Vinuesa—H. D. T. Gutiérrez Posse, Derecho Internacional Publico, Tomo I, Buenos Aires1981, p. 82.
178. Ähnliche Überlegungen stellt auch A. Bleckmann an, Vgl. Die Praxis des Völkergewohnheitsrechts als konsekutive Rechtssetzung, in : Völkerrecht
als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für H. Mosler, Hrsg. R. Bernhardt (W. K. Geck) u. a., Heidelberg 1983, vor allern S. 89—92.
179. Urheber dieser These soll Bin Cheng, in : The Indian Journal of Inter national Law, Bombay 1965, p. 23 gewesen sein. Vgl. bei E. J. Aréchaga, El Derecho Internacional Contemporáneo, Madrid 1980, p. 31.
180. Der Begriff wurde nach K. Lenk, Beiträge der italienischen Rechtswissenschaft zur Entwicklung der Völkerrechtsdoktrin seit 1945, Dissertation Heidelberg, 1969, S. 40, von Ago geprägt.
181. Nach R.—J. Dupuy sei dieses Sofortgewohnheitsrecht „inspiratoire”,„incitatoire” und „programmatoire”. Vgl. in : L’élaboration du droit international public, Paris1975, p. 170. 43
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3ccb) Die politisch-nichtrechtlichen Normen als Ergebnisform des Normbildungsprozesses
Im Blickwinkel der Rechtstheorie ist das Recht nicht der einzige normative Faktor. Es gibt weitere normative Systeme, wie z. B. die Normen der Moral und der gesellschaftlichen Organisationen. Sie stellen in ihrer Gesamtheit soziale Normen dar und sind für die Verhaltensregulierung wichtig. (183) Dabei werden die Moralnormen inhaltlich ebenfalls durch objektive Interessen bestimmt. (184) Das Typische der Moralnormen besteht darin, dass sie keiner besonderen Institution bedürfen, die ihre Einhaltung erzwingen muss. Ihre Kraft beruht auf der Überzeugung, der öffentlichen Meinung, der moralischen Autorität etc. (185)
In den internationalen Beziehungen wird der moralische Aspekt von den politisch-nichtrechtlichen Normen miterfasst, wobei inhalts- und sachbezogene Nuancierungen nicht zu übersehen sind. Wollte man eine Hierarchie der politisch-nichtrechtlichen Normen schaffen, so müsste das Prinzip der Friedenssicherung an der Spitze stehen. Die Rangstellung aller anderen politisch- nichtrechtlichen Normen müsste sich dann nach dem wichtigsten Kriterium richten : ihr Beitrag zur Friedenssicherung.
Von dieser Prämisse ausgehend, können das Prinzip der Abrüstung— bei ihm bilden sich allmählich rechtliche Elemente heraus—und das Prinzip des militätisch-strategischen Gleichgewichts zwischen den Staaten des Warschauer Vertrages und der NATO genannt werden. Mit diesen hängt inhaltlich das Prinzip der Gleichheit und gleichen Sicherheit zusammen. (186)
Von diesen Grundnormen politischen Charakters sind konkrete, in politischen Abkommen, wie z. B. in der KSZE-Schlußakte vereinbarten Verhaltensnormen abzusetzen, die aber teilweise auch rechtliche Aspekte aufweisen.
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182. Diese Auffassung wird von M. S. ad- Daqqaq vertreten, Vgl. Nahwa qanun duwwali li-t-tanmiya ila Cadam al-musawat at-ta Cwidiya (Für ein Völkerrecht der Entwicklung von der präventiven Gleichheit zur kompensatorischen Ungleichheit), in : al-Magala al-misriya li-qanun ad duwwalli (arab. Teil der Revue egyptienne de droit international), Vol. 34, Le Caire1978, p. 91.
183. Vgl. Marxistisch—leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 400, 534
184. Vgl. auch K.—H. Thieme, Interessen und moralische Triebkräfte des Leistungsstrebens…in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 1, Berlin 1984, S.2.
185. Vgl. Marxistisch—leninistische Saats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 534.
186. J. Gilas, Miedzynarodowe normy polityczne, in: Przeglad Stosunkow Miedzynarodowych, Nr. 3, Opole 1978, S. 20 ff. hat eine relativ breite Palette von grundlegenden politischen Normen wie die Anerkennung legitimer Interessen, das Einverständnis mit der territorialen Abgrenzung des Sozialismus und Kapitalismus in Europa, das Bestreben nach Entspannung, die wachsende Aufmerksamkeit gegenüber den globalen Menschheitsproblemen usw. entwickelt.I. I. Lukaschuk zählt zu den „elementaren”, also zu den grundlegenden politischen Normen, ferner die Nichtzulassung von „Überraschungen” in den Beziehungen zwischen den Blöcken, die Angemessenheit beim Einsatz der Macht usw. Diese „Prinzipien“ können aber nicht unwidersprochen bleiben. Vgl. Elementarnyje normy wsaimootnoschenij sozialistitscheskich i kapitalistitscheskich gossudarstw, in : Westnik Kiewskogo Universiteta, Nr. 10, Kiew 1980, vor allem S. 17, 21—26.
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Solche Ergebnisse des politischen Normbildungsprozesses vermögen mitunter, die Ziele der Staaten umfassender zu widerspiegeln, als dies bei völkerrechtlichen Verträgen der Fall wäre. (187) Sie gehören bereits zu den die internationalen Beziehungen, wenn auch partiell, regulierenden politischen Instrumenten. Sie besitzen eine politisch-moralische Normativität, eine Frage, die eigentlich erst in den70er Jahren aktuell wurde, während bis dahin in ähnlichen Fällen von „non-binding agreements” die Rede war. (188) Neue Erscheinungen in den internationalen zwischenstaatlichen Beziehungen wurden also ausschließlich unter Zugrundelegung des völkerrechtlichen Vertrages eingeschätzt. Hierdurch wurde der Weg für Überlegungen in eine andere Richtung versperrt.
Verglichen damit, verlief die internationale Fachdiskussion zum Charakter der Resolutionen/Deklarationen der UNO-Vollversammlung völlig anders. Jahrzehntelang ging es um die Frage, ob sie rechtlich verbindlich oder nichtverbindlich sind.
Von der überwiegenden Mehrheit der Völkerrechtler wurde die Auffassung vertreten, dass die Resolutionen— gemeint sind nicht jene rechtlich verbindlichen zu Haushaltsproblemen— empfehlenden Charakter besitzen. Erst im Zusammenhang mit den zahlreichen Resolutionen zur„Neuen internationalen Wirtschaftsordnung”, zur Abrüstung und zum Umweltschutz wurde diese Fragestellung viel differenzierter betrachtet. Gerade in diesem Kontext wurden vorwiegend von britischen und französischen Juristen zwar schillernde, jedoch wissenschaftlich und speziell normbildungstbeoretisch nicht überzeugende Termini geprägt, die ihren Siegeszug durch die Völkerrechtsliteratur antraten, inzwischen aber bei einzelnen Juristen auf Ablehnung stoßen.
Pseudowissenschaftliche Begriffe wie„schwaches Recht” („soft law”), „grünes Recht”(„green law”), „Sofortrecht”(„instant law”), „Vor-Recht”(„pré-droit”), „Fast-Recht” („para-droit”), „Pseudo-Recht” („pseudo-droit”)„Vor-juristisch” (pré-juridique”), „deklaratorisches Recht” („droit déclaratoire”), „empfehlendes Recht” („droit recommandaire”), „programmatisches Recht” („droit programmatoire”, „droit programme”),„direktives Recht” („droit directif”),„wackliges Recht” („droit fragile”), „aufforderndes Recht” („droit incitatif”),„unsichere Normen”(„normes précaires”), „weiche Verpflichtung”(„soft obligation”, „soft liability”) u. dgl. m. geistern in der Fachliteratur herum.
Im folgenden soll auf die verbreitesten Wortschöpfungen dieser Art eingegangen werden. Unter „soft law” verstehen einige Autoren zwei unterschiedliche Sachen. Zum einen rechnen sie dazu völkerrechtliche Instrumente, die aber den Rechtssubjekten Bewegungsfreiheit bezüglich der Erfüllung des Inhalts einer Direktive geben. Nur die Erzielung eines bestimmten Ergebnisses wird unabhängig von den benutzten Mitteln und Wegen gefordert. Sie zählen dazu z. B. das Pactum de contrahendo, wobei das Resultat der Direktive von sekundärer Bedeutung sei, die Hauptaufgabe sei die Forderung einer Haltung beständigen und ernsthaften Bemühens um Zusammenarbeit zur Erreichung einer Übereinkunft.
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187. Vgl. ähnlich auch I. I. Lukaschuk, Meschdunarodnyje polititscheskije normy w uslowijach rasrjadki naprjashonnosti, in : Sowjetskoje gossudarstwoi prawo, Nr. 8, Moskwa1976, S. 107, 113.
188. Diese theoretische Frage spielte z. B. bezüglich des sowjetisch-österreichischen „Moskauer Memorandums” vom August 1955 eine große Rolle. Das Dokument wurde von einigen Völkerrechtlern als eine unverbindliche politische Erklärung qualifiziert. Vgl. F. Ermacora, Österreichs Staatsvertrag und Neutralität, Frankfurt/M., Berlin 1957, S. 106 ff. und A. Verdross, Die österreichische Neutralität, in : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band 19, Stuttgart 1958, S. 515.
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Zum anderen bezieht sich das „soft law” auf in vielen internationalen Instrumenten z. B. Resolutionen zu den Menschenrechten, zum Umweltschutz, in Kodizes und in der KSZE-Schlußakte enthaltenen Verhaltensmodellen. Zwischen dem „soft law” einerseits und dem Völkergewohnheitsrecht sowie dem Moralrecht andererseits wird unter schieden. (189) Gegen die These vom „soft law” wenden sich einige Juristen, die es nicht für ein Recht halten. (190) Durch diese These werden der juristische Charakter der Rechtsquellen und die Rechtsnormativität des Völkerrechts stark gefährdet. Diese „Aufweichung” des Völkerrechts ist daher unbedingt zurückzuweisen.
Ähnlich verhält es sich auch mit dem „green law”, (191) dem „pré-droit”(192) dem „droit directif”(193) und dem „droit programmatoire”. Für letzteres tritt vor allem Dupuy ein, das er dem „soft law” vorzieht. Er versteht darunter normatives Recht, das auf der Ebene von Zielstellungen und Prinzipien liege, ohne die Ebene einer detaillierten Regelung zu erreichen.In bestimmten UNO-Resolutionen(„résolutions programmatoires”) käme nach Dupuy bereits Recht zum Vorschein. (194)
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189. Vgl. die von J. P. A. Tammes, Sotf law, in : Essays on internationale and …, aufgezählten Möglichkeiten des „soft law” (p. 189—190, 192, 194). Zum„Soft law” in Verträgen ökonomischen Charakters vgl. ausführlich J. Gold, Strengthenning the soft international law of exchange arrangements, in : The American Journal of International Law, No. 3, Washington1983, p. 443—456.
190. M. R. J. Dupuy, Droit déclaratoire et droit programmatoire : De la coutume sauvage a la „soft law”,in : L’élaboration du droit international public ( Société Française pour le Droit International, Colloque de Toulouse 1974), Paris 1975, p. 132—134, 139—145, erblickt in dieser These eine Gefährdung der Reinheit der traditionellen Völkerrechtsquellen. Nach Dupuy soll der Begriff „soft law” von McNair auf einem Kolloquium der Haager Akademie (14.—16.August1973) geprägt worden sein. Dupuy habe sich schon damals gleich dagegen gewandt (p. 139). Das „soft law” liege auf der Ebene der Ethik (p. 145). Die Rechtsqualität des „soft law” wird von G. Schwarzenberger, The Dynamics of International Law, Oxon 1976, ebenfalls stark bezweifelt (p. 9). Den Generalangriff auf diese These führte P. Weil, Vers une normativité relative en droit international ? in : Revue général de droit international public, Tome 86, No. 1, Paris1982, p. 5—47. Weil unterzieht die These vom„soft law” einer vernichtenden Kritik und verteidigt den rechtsnormativen Charakter des Völkerrechts.
191. M. R. J. Dupuy, Droit déclaratoire…, a. a. O., ist bereit, dem „green law” nur die Qualität von juristisch unverbindlichen Absichtserklärungen zu zuerkennen (p. 147).
192. Diese These wird vertreten von einigen französischen Völkerrechtlern : C.—A. Colliard, Institutions des relations internationales, Paris1974, p. 276 ; M. Virally, in: Pays en voie de développement et transformation du droit international (Société Française pour le Droit International, Colloque d’Aix-en-provence 1973), Paris1974, p. 307; P. Buirette-Maurau, La Participation du Tiers-Monde a L’Élaboration du Droit International, Paris 1983. Sie betrachtet das „pré-droit” im Rahmen des Völkerrechtsbildungsprozesses als Ausgangspunkt und Etappe für künftige Normen (p. 72). Im Prinzip kann ihr zugestimmt werden. Der Begriff „pré-droit” ist jedoch m. E. hierfür nicht unbedingt erforderlich. Er schafft nur Verwirrung.
193. Das „droit-directif“ würde eine Richtung bestimmen und den Rahmen für künftige Handlungen abstecken. Vgl. hierzu I. F. Prévost, Observation sur la nature juridique de l’Acte Final la conférence sur la sécurité et la coopération en Europe, in: Annuaire Francais de Droit International, Paris1975. Als Beispiel für das„droit directif” nennt er undifferenziert die Normen der KSZE-Schlußakte (p. 142).
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Von diesem Verständnis ist jenes einiger sowjetischer Völkerrechtler zu unterscheiden, die nicht von einem „programmatischen Recht”, sondern vielmehr von „programmatischen Normen” sprechen, die rechtlicher oder nichtrechtlicher Art sein können. Kriterium hierfür ist der Normeninhalt. (194) Dieser differenzierten Betrachtungsweise kann grundsätzlich beigepflichtet werden.
Die oben kurz skizzierten Thesen und Begriffe stehen inhaltlich hauptsächlich mit Resolutionen/Deklarationen der UNO-Vollversammlung in Verbindung, die zu den wichtigsten politisch-nichtrechtlichen Ergebnisformen des internationalen Willens-bzw. Normenbildungsprozesses gehören. Aus der Realität der internationalen Beziehungen und speziell im Rahmen der UNO-Vollversammlung geht hervor, dass in den seltensten Fällen ein resolutionsbezogener Consensus omnium vorliegt. Größtenteils ist es so, dass einzelne oder mehrere Staaten zusammen, ausgehend von ihren Interessen, Resolutionsentwürfe einbringen, die dannje nach Materie mehr oder weniger kontrovers beraten werden. Während die sozialistischen Staaten, unterstützt von vielen Entwicklungsländern, zu den Fragen der Friedenssicherung und der Abrüstung zahlreiche Resolutionsentwürfe vorlegen, beziehen sich ähnliche Aktivitäten der Entwicklungsländer auf das komplexe Problem der „Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung” (NIWO). Die Staaten lassen sich dabei von ihrer konkreten Interessenlage und von anderen Faktoren in der Innenpolitik sowie in den internationalen Beziehungen leiten (vgl. 3ca und 3cb) . Da in den meisten Fällen die Staatsinteressen konträrer Natur sind, wird der Interessenausgleich unter komplizierten Bedingungen erzielt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang der Fakt, dass bei der Abstimmung führende kapitalistische Staaten entweder sich der Stimme enthalten oder sogar gegen die Resolutionen zu Fragen der NIWO und der Abrüstung stimmen. Das Ergebnis der Beratungen kann daher ein Consensus generalis sein. Der Consensus omnium und damit die opimo communis sind in bestimmten Fällen dennoch nicht ausgeschlossen.
Es soll hier nicht auf die verschiedenen Resolutionskategorien eingegangen werden. (196) Vielmehr ist zunächst ihre allgemeine Bedeutung zu unterstreichen : Sie widerspiegeln den Charakter der Beziehungen verschiedener Staaten und weisen auf die neuesten und wichtigsten Probleme der internationalen Beziehungen hin; sie vermögen, obwohl rechtlich nicht verbindlich,
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194. Vgl. M. R. J. Dupuy, Droit déclaratoire…, a. a. O., p. 132, 134, 144—145. Nach der Meinung von P. M. Martin, Le Nouvel Ordre Économique International, in : Revue général de droit international public, Tome 80, No. 2, Paris1976, p. 535, stelle die gesamte NIWO ein „droit programmatoire” dar.
195. Vgl. vor allem I. I. Lukaschuk, Mechanism meschdunarodno-prawowogo regulirowanija, Kiew1980. Als Beispiel für solche Normen nennt er das Selbstbestimmungsrecht, das urprünglich als ein Programm verkündet wurde und sich allmählich als Rechtsnorm herausbildete und den Artike l2 der Konvention über sozial-ökonomische Rechte von1966. Der programmatische Charakter dieser Bestimmung sei offensichtlich, da viele Staaten nicht in der Lage sind, solche Rechte gleich zu realisieren (S. 41—43). Nach A. S. Gawerdowskij, Implementazija norm meschdunarodnogo prawa, Kiew1980, schließen sich die rechtlich verbindlichen „programmatischen Normen” nach Umfang und Inhalt andie allgemeinen Völkerrechtsnormen an (S. 22—24).
196. Vgl. hierzu die von J. E. Aréchaga, El Derecho Internacional Contemporáneo, Madrid 1980, p. 42 und vonG. R. Moncayo—R. E. Vinuesa—H.D. T. Gutiérrez Posse, Derecho Internacional Publico, Tomo I, Buenos Aires1981, p. 164—165 vorgenommene Unterscheidung zwischen den wichtigsten Kategorien von Resolutionen
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das Verhalten der Staaten zu beeinflussen ; sie sind oft Ausdruck des Rechtsbewusstseins und der Gerechtigkeitsvorstellungen der Staaten. So sind die zahlreichen Resolutionen der UNO-Vollversammlung zur Schaffung einer NIWO im Grunde ein Vehikel, um bestimmte Grundwerteforderungen (Gerechtigkeit, Solidarität etc.) der Entwicklungsländer in die internationale Diskussion hineinzutragen und ihnen nach Möglichkeit die Qualität positivrechtlicher Normen verleihen zu lassen. (197)
Die von den Juristen aus den Entwicklungsländern hierüber sporadisch entwickelte Argumentation lässt sich in völkerrechtsphilosophischer Sicht folgendermaßen zusammenfassen : Die in den internationalen Beziehungen herrschende juristische Gleichheit zwischen den Staaten sei angesichts der großen Unterschiede (klein, groß, reich, arm usw.) ungerecht.
Sie wenden sich daher gegen die ungerechte Gleichheit und fordern eine gerechte Ungleichheit, die aber dem Wesen nacheine gerechte Gleichheit sei. Sie fordern die Nichtreziprozität in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, um die gerechte Gleichheit zu erreichen. Die Reziprozität als eine Völkerrechtsnorm würde nämlich bedeuten : Gleiches auf Ungleiches angewandt, führt letzten Endes zur Ungleichheit. Deswegen würde der Wunsch nach bevorzugter Behandlung bedeuten : Ungleiches ungleich behandeln, führt zur gerechten Gleichheit. Derartige Vorstellungen und die darauf fußenden Forderungen spiegeln sich allerdings, abgesehen von seltenen Ausnahmen (Seerechtskonvention von1982 und GATT-Abkommen), vorwiegend in Resolutionen der UNO-Vollversammlung wider. Sie aber besitzen nach der UNO-Charta einen empfehlenden Charakter. (198 ) Eine rechtliche Verbindlichkeit können sie erst erlangen, wenn die voluntas iuris generalis vorliegt. Ohne den Consensus über einen möglichen Rechtscharakter von UNO-Resolutionen sind sie weiterhin als Ergebnisformen des politischen Normbildungsprozesses und ihre Inhalte als politisch-nichtrechtliche Verhaltensnormen zu betrachten. Andernfalls käme es hinsichtlich der Inhalte vonResolutionen zu einer Verwischung des Unterschieds von Rechtsprinzipien und Prinzipien des Rechtsbewusstseins bzw. des Gerechtigkeitsempfindens. Zwischen ihnen sind dennoch die Grenzen mitunter fließend.
3ccc) Das Verhältnis zwischen den politisch-rechtlichen und den politisch-nichtrechtlichen Normen
Zwischen den beiden unterschiedlichen Ergebnisformen des internationalen Normenbildungprozesses besteht keine chinesische Mauer. Ihre gemeinsamen materiellen und ideellen Wurzeln ermöglichen im Rahmen des dynamischen konsensualen Normenbildungsprozesses unter Umständen die Umwandlung der politisch-nichtrechtlichen in rechtliche Verhaltensnormen.
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197. Vgl. hierzu stellvertretend für andere Völkerrechtler aus Entwicklungsländern : I.Jazairy, Discours sur le nouvel ordre international et le droit, in : The new international economic order and developing countries, Beograd1980, p. 137; T. Nawaz, Equity and the New International Economic Order : A Note, in: Hossain Kamal (Ed.), Legal Aspects of the New International Economic Order, London, New York 1980, p. 113 ; O. B. Rivero, New Economic Order and International development Law, Oxford etc. 1980 ; R. P. Anand, Legal Regime of the Sea-Bed and the Developing Countries, Leyden1976, p. 261.
198. Vgl. in diesem Kontext N. Horn, Normative Problems of a New International Economic Order, in : Journal of World Trade Law, Vol. 16, 1982, speziell p. 347—348.
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Dieser Prozeß ist jedoch nicht glatt, etwa im Sinne der These vom „formlosen Konsens”,(199) sondern vielmehr dialektisch-wiedrsprüchlich und komplex. Insgesamt ist die völkerrechtliche Bedeutung der in Resolutionen verankerten politischen nichtrechtlichen Verhaltensnormen unter folgenden Gesichtspunkten zu sehen :
Erstens bringen sie bestimmte Tendenzen der Völkerrechtsentwicklung zum Ausdruck, zeigen notwendige Änderungen des Völkerrechts an und üben zugleich einen orientierenden Einfluß auf die Weiterentwicklung des Völkerrechts aus. (200) Unter bestimmten Bedingungen können Resolutionen zu einem entscheidenden Faktor im Prozeß der Völkerrechtsentwicklung werden. So war die Deklaration (Resolution1514 (XV) von1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker eine Konkretisierung und Interpretation des Grundprinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die UNO-Prinzipiendeklaration von 1970 hat die Grundprinzipien des Völkerrechts bekräftigt und authentisch interpretiert. Zweitens können Resolutionen im Rahmen des einheitlichen Normbildungsprozesses den Ausgangspunkt für die Schaffung von rechtlichen Normen bilden. (201) Dies erfolgt am konkretesten durch jene Resolutionen, die im Grunde den Inhalt der späteren Konvention bereits darstellen (Vertragsresolutionen).(202) Drittens kann auf der Basis von Resolutionen Völkergewohnheitsrecht entstehen, vorausgesetzt, dass die unerläßliche opinio iuris vorliegt. ( 203 )
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199. Diese These wurde Mitte der 70er Jahre von B. Simma aufgestellt. Vgl. Methodik und Bedeutung der Arbeit der Vereinten Nationen für die Fortentwicklung des Völkerrechts(Thesen), in : W. Kewenig(Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, Referate und Diskussionen eines Symposiums („Entwicklungslinien der Praxis der Vereinten Nationen in völkerrechtlicher Sicht”), Kiel, Berlin 1975, S. 71—101. Simmas Auffassung stößt aber auf Ablehnung : So Steiger bereits während des Symposiums, S. 122 ; H. Ballreich, Wesen und Wirkung des „Konsens” im Völkerrecht, in : Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für H. Mosler, Hrsg. R. Bernhardt u. a., Heidelberg1983, S. 23—24 und K. Skubiszewski, Rechtscharakter der Resolutionen, der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in : Fünftes deutsch-polnisches Juristen-Kolloquium, Hrsg. R. Bernhardt u. a., Baden-Baden1981, S. 34—35 Diese ablehnende Haltung veranlasste Simma, seine ursprüngliche Konzeption etwas zu modifizieren : „So zeigt sich, dass die Völkerrechtserzeugung durch formlosen Konsens bei Gelegenheit der Generalversammlung bis heute in der Praxis kaum je eine Rolle gespielt hat. In der Theorie dagegen läßt sich diese Rolle nicht leugnen, und was die Praxis anbetrifft, so kann sie sich ändern”.Vgl. Zur völkerrechtlichen Bedeutung von Resolutionen der UN-Generalversammlung, in: Fünftes deutsch-polnisches Juristen-Kolloquium, a. a. O., speziell S. 57—67 (Zitat auf S. 64).
200. Hierzu seien aus der Vielzahl von Veröffentlichungen einige repräsentative paradigmatisch erwähnt : G. I. Tunkin—V. M. Schischkin, O meschdunarodno-prawowych prinzipach nowogo meschdunarodnogo ekonomitscheskogo porjadka, in : Sowjetskoje gossudarstwo i prawo, Nr. 9, Moskwa 1980,S. 88—96; I. I. Lukaschuk, Méchanism…,a. a. O., S. 142; H. Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung, in : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band 36, Nr. 1—3, Stuttgart 1976, S. 23 ; U. Scheuner, Zur Auslegung der Charta der Generalversammlung, Die Erklärung über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit der Staaten, in : Vereinte Nationen, Nr. 4, Koblenz 1978, S. 112.
201. In diesem Sinne können sie schon als Inspirationsquelle” betrachtet werden. Vgl. O. B. Rivero, New Economic Order and…,a. a. O., p. 122.
202. Vgl. auch Report of the Working Group on the „Review of multilateral treaty-making process”, Doc. A/C. 6/37/L. 29, 3 Dec. 1982, p. 4/5, para. 20. Vgl. indirekt auch G. Arangio-Ruiz, The normative role of the General Assembly of principles of friendly relations, in : Recueil de Cours, Académie de droit international, III, 137, Den Haag 1972, p. 486—487.
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3cd) Zur Einhaltung der politisch-rechtlichen und der politisch- nichtrechtlichen Normen im Interesse der Friedenssicherung
Es wurde bereits angedeutet (vgl. 3cb), dass während auf die rechtlichen Ergebnisformen des internationalen Normenbildungsprozesses der Grundsatz der Vertragstreue (Pacta sunt servanda) anzuwenden ist, es für die politisch- nichtrechtlichen Ergebnisformen keinen adäquaten Grundsatz gibt und in dieser Form nicht geben kann. Die Achtung des Grundsatzes Pacta sunt servanda ist außerordentlich wichtig für die Schaffung stabiler internationaler Beziehungen (204) und eines Klimas des gegenseitigen Vertrauens. Das ist wiederum eine günstige Vorbedingung, um im Interesse der Friedenssicherung und der Vertiefung der friedlichen internationalen Zusammenarbeit auf einer qualitativ höheren Ebene neue Verträge abzuschließen.
Demgegenüber verursacht die Verletzung dieses Grundsatzes Unzufriedenheit bei den anderen Vertragspartnern und untergräbtdas Vertrauen. Ähnliche Folgen könnte die Nichtrespektierung der politisch-nichtrechtlichen Normen ebenfalls haben, obwohl ihre Einhaltung eher auf freiwilliger Basis erfolgt. Natürlich ist dabei zwischen den eindeutig politischen Abmachungen(z. B. der KSZE-Schlußakte) und den in Resolutionen der UNO-Vollversammlung enthaltenen Verpflichtungen zu unterscheiden.
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203. Vgl. auch G. R. Moncayo—R. E. Vinuesa—H. D. T. Gutierrez Posse, Derecho International Publico,as.as.O., p. 90 und G. Arangio-Ruiz, The normative role…,a. a. O., p. 478—479. Vgl. indirekt ebenfalls : L. A. C. Podesta—J. M. Ruda, Derecho Internacional Publico,a.a.O., p.22 ; M. Virally,The Sources of International Law, in : Max Sorensen (Ed.), Manual of Public International Law, London, New York 1968, p. 162 ; P.Visscher, Observations de l’Assamblée générale de l’Organisation desNations Unies, in : Festschrift für R. Bindschedler, Hrg. E. Diez—J.Monnier u. a.,Bern1980, p. 176—177 ; M. Mendelson, The legal Charakter of General Assembly Resolutions : Some. Con-siderations of Principle, in: Hossain Kamal (Ed.), Legal Aspects of the…, a. a. O., p. 99—101.
204. Vgl. zum Verhältnis von Verträgen und Stabilität vor allem: A. Bolintineanu, Stabilitatea tratatelor-problema esentiala a kodificarii dreptului tratatelor, in : Revista romana de drept, Num. 1, Bucuresti1969, p. 66; M. Potocny, umluva o smluvnim pravu in : Casopis pro mezinârodni prâvo, Nr. 1, Praha1970, S. 5 ff.