Religion
1. Der Begriff Religion
bedeutet a) eine besondere Form des Glaubens, die von einer größeren Gemeinschaft von Menschen anerkannt wird, b) die Verehrung Gottes, c) eifrige Hingabe und d) das Studium der Religion (Duden, Das Große Fremdwörterbuch, Mannheim/Leipzig, 2000, S. 1159 ).
2. Bedeutung von Religion
Mittelpunkt aller großen Religionen steht die Frömmigkeit der Gläubigen. Zwiscen den meisten Religionen einerseits und anderen menschlichen Positionen und Richtungen, wie z.B. in den Wissenschaften, der Philosophie und den bildenden Künsten andererseits besteht ein entscheidender Unterschied: heilig und sakral in der Religion, nicht-sakral und säkular in der Gesellschaft.
Zum Sakralen und Heiligen gehören Gott und Götter, besondere Orte und Zeiten, Texte und Handlungen, Gebote und Verbote und Menschen als Vorbilder, z.B. die Heiligen. Das Heilige gibt dem religiösen Handeln einen bestimmenden Sinn. In der Zeit vor der europäischen Aufklärung und auch heute noch in Ländern außerhalb des westlichen Kulturkreises spielte und spielt die Religion eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Zusammenhalts von Nationen und Gesellschaften, indem sie vielen Aspekten des Lebens einen Sinn verleiht.
Aber gerade diese Rolle der Religion birgt viele Gefahren, wie z.B. einige Formen von Dogmatismus, Fundamentalismus und Fanatismus, weil die Religion für die Verwirklichung unheiliger Ziele instrumentalisiert wird (z.B. politisch motivierter Scheinglaube, Religion als “Opium des Volkes”, besonders in Indien,usw.). Im westlichen Kulturkreis begann mit der Renaissance, dem Humanismus, der Aufklärung, der Unabhängigkeit von Moral und Politik und der raschen Entwicklung der Wissenschaften und der schönen Künste der Einfluss der Religion auf die Gesellschaft allmählich zu schwinden. Bereits im antiken Griechenland wurde die Religion kritisiert (Xenophanes und andere), aber die intensivsten ideologischen Debatten wurden in der Aufklärung geführt, obwohl einige Schritte in diese Richtung längst im 17. Jahrhundert von dem spanisch-niederländischen Juden Baruch Spinoza unternommen wurden. Der materialistische Philosoph und exzellenter Erkenntnistheoretiker hatte auf der Grundlage eines cognitiven Systems den pantheistischen Monismus theoretisch begründet (Gott als Natur ist die einzige, absolute und ewige Essenz).
Französische Aufklärer, in erster Linie Materialisten, vertraten die Ansicht, dass die Religion und insbesondere die katholische Kirche eine tragende Säule des Ancien Régime und der feudalen Macht war. Frankreichs größter materialistischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, P.T. Holbach, bewertete die Religion als Mittel der Unterdrückung und Korruption (siehe sein berüchtigtes Werk “Le christianisme devoile”, London, 1766), während der “Fürst der Aufklärer” Voltaire die Religion zwar anprangerte, gleichzeitig aber ihre positive Rolle für den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität betonte. Der atheistische und gerissene Putin tut heute das Gleiche. Engländer (E.H. Cherbury, J. Toland, Shaftesburi etc. (auch heute noch ist London das Zentrum der Atheisten in aller Welt) und Deutsche (die führenden Philosophen I. Kant und G.F. Hegel sowie der Philosoph J.G. Fichte) haben den Anspruch der christlichen Religion auf das Wahrheitsmonopol zurückgewiesen. Dies ist in der Tat “schwere Artillerie”.
Im Vergleich zu ihnen war F. Nietzsche zweifellos ein fanatischer Feind der christlichen Religion. Wir ziehen es vor, seine Schimpfkanonaden nicht zu erwähnen, aber seine Haupt-These sei erwähnt, dass die Religion pervers sei und die Menschheit zerstörte.
Und Karl Marx war an sich ein großer Feind der Religion, aber die Neomarxisten A. Gramsi, E. Bloch, R. Garaudy und M. Horkheimer haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Position von Marx und dann des orthodoxen Marxismus nicht dialektisch war, und sie haben insbesondere die praktische, befreiende und volksverbundene Kraft der Religion hervorgehoben. Im Bereich der Philosophie finden wir auch positive Ansichten über Religion (Platon ohnehin, Aristoteles).
Im Allgemeinen werden die folgenden Argumente für die Notwendigkeit der Religion angeführt:
1. Politisch: Religion ist eine Möglichkeit für hohe Staatsbeamte, die Bürger zur Einhaltung moralischer Normen zu bewegen. Kriton hat bereits die Rolle der Götter, d.h. der Religion, bei der Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung hervorgehoben (VS 88 B 25).
2. Wissenschaftlich: Die Religion ist ein Versuch, Erklärungen für Naturphänomene zu geben, über die das notwendige Wissen fehlt (vor allem Demokrit und Lukrez).
3. Anthropologisch: Eine der Grundlagen der Religion ist das Bedürfnis und der Wunsch des Menschen, eine kulturelle Stabilität zu erlangen. Cicero zufolge sind Furcht und Verehrung des Göttlichen ein Grundbedürfnis des Menschen.
4. Moralisch: Die Religion vermag den Menschen zu beeinflussen, sittlich und zum Nutzen des Ganzen zu handeln (I. Kant, J. Fichte, kontroverse Haltung), (vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschafstheorie, hrsg,. von J. Mittelstraß, Bd. 3, Stuttgart/Weimar, 2004, S. 577-586).
5. Kulturell: Die Religionen haben durch ihre moralischen Grundsätze wesentlich zur Zivilisation der Völker beigetragen. Wir erwähnen nur die wichtigsten davon: die Zivilisierung der Russen und der Balkanvölker durch die christliche Orthodoxie, die zahlreichen alten deutschen und keltischen Völker durch den römischen Katholizismus, die Zivilisierung von Völkern durch den Hinduismus und den Buddhismus.
6. Historisch: Vom Mesolithikum der alten Schamanen über die ganze Welt, in allen Rassen und bei allen Völkern bis zum heutigen Tag gibt es in fast allen Fällen Religionen mit der notwendigen Priesterschaft als Vermittler zwischen Mensch und Gott (siehe das erstaunliche Buch A. Bancroft, Origins of the Sacred-The Way of the Sacred in Western Tradition, London/New York, 1987).
7. National: Die entscheidende Rolle der christlichen Religion im Prozess der Ethnogenese vieler europäischer Nationen und insbesondere der Spanier, Polen, Russen und Balkanvölker, vor allem der Griechen, ist allgemein bekannt.
8. Es ist daher kein Zufall, dass das Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit seit dem Zweiten Weltkrieg in wichtigen internationalen Dokumenten verankert ist: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948, Artikel 18), Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966, Artikel 18), Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (1950, Artikel 9).
Die Religion hat jedoch ihre Unschuld verloren, seit sie mit der Macht verschmolzen wurde. Sie wurde fünftausend Jahre lang von der Macht instrumentalisiert, in Sumerien, in Ägypten und später in Akkadien, in Babylonien (es gibt zahlreiche Texte zu diesem Thema, die den verschlossenen Theologen der christlichen Orthodoxie natürlich völlig unbekannt sind), im Römischen Reich usw. Vor allem im Imperium Romanum Orientalis (Oströmisches Reich), wo das Christentum zur Reichsreligion erklärt wurde, erfolgte seine vollständige Instrumentalisierung für die Zwecke der kaiserlichen Macht. Das Gleiche geschieht heute in Russland: Der Patriarch ist Putins Diener.
Erinnern wir uns daran, dass viele große Verbrechen im Namen der Religion begangen wurden (die Plagen der Anhänger christlicher Sekten in Byzanz, die schweren Verbrechen der unmenschlichen “Santa Inquisicion”, schreckliche Verbrechen bis hin zum Völkermord durch die Kreuzritter (deus vult: Gott will es), gegenseitiger Streit und Gräueltaten zwischen Katholiken und Protestanten 30 jahrelang (Religionskrieg), für die jedoch nicht Glaube und Religion verantwortlich sind, sondern deren Instrumentalisierung und Ausbeutung für politische Zwecke, wie dies heute beim “politischen Islam” der Fall ist (Taliban, Al Qaida, “Islamischer Staat” usw.).
Allgemeine Schlussfolgerungen
α) Die Religion ist in Verbindung mit dem Glauben ein menschliches Phänomen, sie gehört zu den Grundfreiheiten und -rechten eines jeden Menschen und Bürgers, kann aber nicht durch äußere Mächte den Menschen aufgezwungen werden.
b) Die Religion ist in der Lage, den sozialen und nationalen Zusammenhalt durch ihre moralische Lehre zu stärken.
c) Nichtreligiöse Menschen haben die moralische Pflicht, dieses Menschenrecht zu achten.
d) Die Instrumentalisierung der Religion durch die politischen Behörden ist in der Regel eine Selbstverständlichkeit.
Veröffentlicht in Griechisch in: Καθημερινή (Kathimerini), 30.10.16, 29.3.2020 in Auseinandersetzung mit dem griechischen Philosophen und Theologen Christos Giannaras
Aus meinem Buch: Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος (Panos Terz): Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Θρησκεία, Ιστορία, Εθνολογία, Πολιτισμός, Γλωσσολoγία, Δεύτερος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung: Religion, Geschichte, Ethnologie, Kultur, Linguistik, Zweiter Band), ISBN: 978-620-0-61339-4, Saarbrücken 2020, S.29 ff.
Zeit (6.2.24)