Völkerrechtssoziologie, Überblick
1.Die Völkerrechtssoziologie ist eine Wissenschaft in statu nascendi. Sie stützt sich in erster Linie auf die Soziologie, die Rechtssoziologie und die Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen. Sie besteht aus den folgenden Bestandteilen: Theorie, Methodologie, Dogmatik und Geschichte der Völkerrechtssoziologie.
2. Die wichtigsten Gegenstände der Völkerrechtssoziologie sind die folgenden: die globalen Herausforderungen der Menschheit; die Interessen der Menschheit, der Völker und der Staaten; der politische Wille der Staaten; die Macht, der Einfluss, das internationale Kräfteverhältnis und nunmehr das fehlende Gleichgewicht; die Problemstellungen der Stabilität, der Entwicklung und Veränderung in den internationalen Beziehungen; die geopolitischen und geostrategischen Faktoren; das Verhalten der Staaten; die internationale öffentliche Meinung; die Verhandlungen, die politischen Abmachungen und politischen Normen sowie ihr Verhältnis zu den Rechtsnormen; die politische Verbindlichkeit und die politische Verantwortlichkeit sowie die politischen Reaktivmaßnahmen; das Verhältnis zwischen der Völkerrechtswissenschaft und der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen.
3. Die Völkerrechtssoziologie hat eine Reihe von methodologischen Grundsätzen mit spezifischem Inhalt wie Objektivität, Analyse/Synthese, Induktion, Komplexität, Systemhaftigkeit und Globalität. Bei dem internationalen Normenbildungsprozess gilt die „goldene“ Kette Bedürfnisse – Interessen – Wille – Normen – Verhalten. Dieser Prozess hat weitestgehend konsensualen Charakter. Durch ihn entstehen drei Normkategorien, namentlich die Rechtsnormen, die politischen Normen und die Moralnormen. Für die politischen Normen gilt der Grundsatz „ex consenso norma Politica oritur“.
4. Normen in Deklarationen/Resolutionen bringen einen consensus opinionis politicae generalis der Staaten zum Ausdruck. Politische Normen in konkreten Abmachungen politischen Charakters sind Ausdruck eines consensus voluntatis politicae der daran beteiligten Staaten. Aus politischer Normen erwachsen politische Verpflichtungen bzw. die politische Verbindlichkeit. Solche Verpflichtungen sind nach dem Grundsatz bona findes zu erfüllen. Andernfalls kommt es auf der Grundlage der politischen Verantwortlichkeit zu politischen Reaktivmaßnahmen. In diesem Falle sind vor allem die grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts sowie spezielle Grundsätze, wie die Verhältnismäßigkeit, zu respektieren. Politische Normen können sich zu Rechtsnormen entwickeln.
5. Die Völkerrechtssoziologie ist die absolut notwendige und auch die passende völkerrechtswissenschaftliche, völkerrechtsfreundliche sowie völkerrechtsverteidigende Antwort auf die vorwiegend völkerrechtsnihilistisch, völkerrechtsleugnerisch und mitunter auch völkerrechtszerstörerisch ausgerichtete, betriebene und wirkende Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen, insbesondere im Sinne des US-amerikanischen political sciences („Theory of International Relations“). Die Völkerrechtssoziologie weist weitestgehend die Vorzüge der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen auf, ohne jedoch ihre Mängel zu enthalten.
6. Politische Normen werden in der Regel dann geschaffen, wenn die Zeit für Völkerrechtsnormen noch nicht reif ist. Sie weisen in hohem Maße Dynamik, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität auf. Politische Normen können zum Vorläufer von Rechtsnormen werden.
7. Politische Normen besitzen Aufforderungscharakter. Ihre wichtigsten Merkmale sind die folgenden: Sie werden von der politischen Überzeugung sowie von den politischen Interessen der Staaten bestimmt; sie regeln gesellschaftliche Verhältnisse; bei Verletzung besteht die Möglichkeit, Reaktivmaßnahmen (Sanktionen) politischen Charakters einzuleiten.
8. Für die politischen Normen gilbt der allgemein gehaltene Grundsatz bona fides.
Quelle : Panos Terz, Die Völkerrechtssoziologie, Versuch einer Grundlegung in den Hauptzügen. Defensio Scientiae Iuris inter Gentes in : Papel Politico, Pontificia Universidad JAVERIANA, Facultad de Ciencias Politicas y Relationes Internacionales, Vol. 11, No. 1 , 2006, pp. 261-303 )