Henry Kissinger, 98 Jahre alt
Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der DIFFERENZIERTHEIT der Allgemeinen Methodologie der wissenschaftlichen Forschung kann Henry Kissinger wie folgt eingeschätzt werden:
a) Als Außeminister de Imperium Americanum hat er auch bei Verletzung des Völkerrechts zur internationalen Interessendurchsetzung beigetragen. Zugleich legte Kissinger ein hohes Maß an Pragmatismus an den Tag, indem er das militärstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und der damaligen UdSSR anerkannte.
b) Als excellenter und einfallsreicher Wissenschaftler hat er zur Weiterentwicklung der Theorie der Internationalen Beziehungen beigetragen. Zu nennen sind in erster Linie seine bahnbrechenden Bücher Großmacht-Diplomatie.Von der Staatskunst Castbereaghs und Metternichs. Düsseldorf/Wien 1972 und Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. München 1996. Kissinger war der erste Wissenschaftler, der der fast musealen und total vernachlässigten Problematik des Gleichgewichts in seiner Doktorarbeit besondere Aufmerksamkeit schenkte und somit aktuell machte.
Natürlich hat Kissinger als Wissenschaftler nicht aufgehört, einerseits hinsichtlich der Außenpolitik der USA unverhohlen Apologetik zu betreiben. Andererseits hat er jedoch beeindruckende Gedanken über die Beziehungen zwischen den USA und China entwickelt, die als Ausdruck eines wissenschaftlich begründeten Pragmatismus zu bewerten sind: China sei, verglichen mit der ehemaligen UdSSR durch die Wirtschaftspriorität viel stärker und außerdem habe sich auf die Hochtechnologien und die künstliche Intelligenz konzentriert. China sei zwar ein großer Rivale, aber es sei besser für die USA, keine Konfrontation, sondern den Dialog mit dieser Großmacht zu suchen.
Sicherlich könnte man diese Gedanken ausformulieren. China ist bereits eine Supermacht in statu nascendi (im Entstehungsprozess) und wird bald auch militärisch genauso stark sein wie die USA. Hieraus folgt, dass ein militärstrategisches Gleichgewicht (des „Schreckens“) zwischen den beiden Supermächten herrschen wird, das einen Krieg zwischen ihnen unmöglich machen wird. Daher ist es vorteilhafter, einen Dialog zu führen bis hin zu einer Kooperation, um gemeinsam zur Lösung der globalen Herausforderungen beizutragen. Ich könnte mir vorstellen, dass die oben erwähnten Kerngedanken Kissingers kalten Kriegern, wie dem NATO-Generalsekretär nicht gefallen.
Zeit (2.6.21), Neue Zürcher Zeitung (3.6.21)