Gesellschaftsvertrag, Antiphon, Epikur, Rousseau
vs. Christos Giannaras
Als orthodoxer Theologe hat der Kolumnist viele intellektuelle und psychologische Probleme mit dem “verdammten Westen” im Allgemeinen und insbesondere mit der europäischen Aufklärung, die international als eine der größten intellektuellen, kulturellen und politischen Errungenschaften der gesamten Menschheitsgeschichte gilt. Ohne sie gäbe es weder die moderne Demokratie, noch den Rechtsstaat, noch den Bürger, noch die weltgeschichtlichen individuellen Menschenrechte und Bürgerfreiheiten, noch die atemberaubenden wissenschaftlichen Errungenschaften auf der Basis des freien Individuums, durch die sich weitere gesellschaftliche Entwicklungen vollziehen. Dass es dabei auch vielfältige Probleme gibt, ist nur natürlich. Die ständige Übertreibung in seinen Artikeln kann jedoch in erster Linie als ein psychologisches Problem sui generis angesehen werden. Es ist bekannt, dass die orthodoxe und die römisch-katholische Kirche wegen ihres Atheismus heftig auf die europäische Aufklärung reagiert haben, aber inzwischen sind viele Jahrzehnte vergangen, und die Neurowissenschaften haben bereits bewiesen, dass der Glaube an eine höhere metaphysische Macht im Allgemeinen, aber nicht an eine bestimmte Religion, dem Menschen angeboren ist. Unverständlich ist jedoch, warum der Autor in fast jedem Artikel den bürgerlichen Begriff des Individuums und der Individualität diffamiert und als Individualismus und Egoismus verdreht. Nun greift er auch den Contrat social (Gesellschaftsvertrag) an, indem er ihn ebenfalls entstellt. Dies ist für mich ein Grund, diese wunderbare intellektuelle und politische Errungenschaft des westlichen Kulturkreises etwas systematischer darzustellen.
Der Gesellschaftsvertrag des Epikur Im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. reiften in Athen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Beschäftigung mit anthropologischen Fragen, die im Mittelpunkt philosophischer Untersuchungen standen, deren methodische Grundlage das Bild des Menschen, nämlich das einzelne Atomon (Individuum) mit eigener Individualität und Selbstbewusstsein, war. Die Individuen wurden gleichgestellt, und so wurde die Frage aufgeworfen, wie eine überzeugende Erklärung für die Rolle des Individuums im Zusammenhalt der Gesellschaft gegeben werden kann. Hierdurch hat sich die Gesellschaftsvertragstheorie allmählich durchgesetzt. Der Erste, der sich mit diesem neuen Thema beschäftigt hat, war der Sophist Antiphon (Αντιφών): “Und die Regeln des Stadtstaates sind das Ergebnis einer gegenseitigen Vereinbarung, aber nicht vorgegeben. Die Regeln der Natur … sind nicht das Ergebnis gegenseitigen Einverständnisses”. Dieses sophistische Konzept hat seit Demokrit eine weltliche Dimension angenommen: Die Schaffung einer Gesellschaft durch die Übereinkunft von ursprünglich vereinzelten Individuen, so wie das Universum durch die Verschmelzung von Materieteilchen entstanden ist. Epikur übernahm einige der Erkenntnisse der Sophisten, entwickelte sie aber weiter: “Das entsprechende Recht in der Natur ist eine Συνθήκη (Syntheke, Vertrag), die den Nutzen (Συμφέρον, Symferon) betrifft, mit dem Ziel, einander nicht zu schaden und keinen Schaden zu dulden”. Es gibt weitere ähnliche Formulierungen von Epikur.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, seine Theorie zu interpretieren:
1. Die Mythen über Götter und Halbgötter, die angeblich die Gesellschaft und den Staat erschaffen haben, werden damit ad acta gelegt.
2. Die Beziehungen zwischen den Individuen (Ατομα) werden durch ihre Interessen bestimmt. Dieses Grundkonzept des Philosophen ist utilitaristisch, und omnipotent auch heute.
3. Der Vertrag setzt voraus, dass die Partner aus eigenem freiem Willen (Freiwilligkeit) handeln und damit gleichberechtigt sind.
4. Außerdem wird der Grundsatz der Gegenseitigkeit aufgestellt, der auch die gegenseitige Unterlassung betrifft.
5. Überdies wird in der Regel eine individualistische Sichtweise geäußert, denn das Hauptziel ist das Wohl des Einzelnen.
Der Gesellschaftsvertrag bzw. Herrschaftsvertrag der europäischen Philosophen
Die Theorie des Gesellschaftsvertrages von Epikur hat fast alle Philosophen beeinflusst, insbesondere die Staatsphilosophen, die sich in vielen europäischen Ländern mit dem Vertrag entsprechend den Erfordernissen ihrer Zeit (17. und 18. Jahrhundert) befasst haben.
Wir nennen hier nur die wichtigsten Beispiele: die spanischen Covarruvias, Vasquez (Escuela de Salamanca), die Deutschen J. Althusius, C. Wolff (aufgrund des gemeinsamen Zwecks der Vereinbarung tritt der Bürger einen Teil seiner Freiheit ab) und S. Pufendorf (gemeinsame Zwecke des Bürgers und des Staates als Grundlage der Vereinbarung) und die Engländer J. Locke (Ziel der Vereinbarung ist ein sicheres und friedliches Leben in der Gesellschaft und im Staat) und Hobbes (Herrschaftsvertrag, nach dem die Bürger Befugnisse an den Staat abgetreten haben und der Staat die Herrschaft ausübt und zugleich seinerseits verpflichtet ist, sich um das Volk zu kümmern.
All diese Konzepte haben den großen Aufklärer J.J. Rousseau stark beeinflusst, der jedoch den Mittelpunkt seines eigenen “contrat social” (Gesellschaftsvertrag) auf die Grundlage der Vernunft, des Nutzens und der volonté générale (allgemeiner Wille) stellte. Dies bedeutet, dass das allgemeine gesellschaftliche Interesse im Mittelpunkt steht und Vorrang vor individuellen Interessen besitzt. Aber das individuelle Interesse ist ein Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Interesses. Ihr Hauptzweck war es, den verschiedenen Individuen eine moralische und politische Einheit zu vermitteln. Insbesondere in Bezug auf das Recht spiegelt sich die Auffassung von J.J. Rousseau in Artikel 6 der berühmten und weltgeschichtlichen Declaration de droits de l Homme et du Citoyen (1789): “La Loi est l expression de la volonté générale”.
Während die sophistische Vertragstheorie von einem individualistischen Menschenbild ausging, beruhte die konfuzianistische “Vertragstheorie” (Konfuzius) auf den charakteristischen Merkmalen der menschlichen Unterordnung und des Gehorsams. Es gab weder das Individuum noch den Bürger. Dies gilt auch heute noch und ist die dominierende Grundlage des konfuzianistischen Kulturkreises in seiner Variante und Weiterentwicklung, dem Konfuzianismus-Kommunismus. Dies ist der Hauptgrund, warum die Chinesen nicht in der Lage waren, eine Theorie des Gesellschaftsvertrages zu entwickeln. Es wurden jedoch Ansichten geäußert, die allenfalls als erste Schritte auf dem Weg zu einer Theorie Herrschaftsvertrages betrachtet werden könnten. Unabhängig von der Art des Vertrags, ob es sich um einen Gesellschafts- oder um einen Herrschaftsvertrag handelte, gab es jedoch im Allgemeinen ein Mindestmaß an Gegenseitigkeit zwischen den Partnern und ein gewisser Zusammenhang von Rechten und Pflichten.
Literatur – Quellen
-Επίκουρος, Απαντα, Αθήνα 1994
-Χ. Κεχρολόγου, Η Επικούρεια Φιλοσοφία- Ατομο και Κοινωνία, Θεσσαλονίκη 2013
-Θ. Πελεγρίνης, Ηθική Φιλοσοφία, Αθήνα 1997
-Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Stuttgart 1980
-M. Hosenfelder, Epikur, München 1991
-J.-J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1984
-J. Locke, Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Leipzig 1980
-Th. Hobbes, Leviathan oder Materie, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Leipzig 1978
-R. Wilhelm, Chinesische Philosophie, Wiesbaden 2007
-Konfuzius, Gespräche in der Morgenstille, Düsseldorf 2008
-Han Fei, Die Kunst der Staatsführung, Die Schriften des chinesischen
Meisters Han Fei, Köln 1994
veröffentlicht in Καθημερινή (Kathimerini), 4.6.2013 in Auseinandersetzung mit dem griechischen Theologen und Philosophen Christos Giannaras
aus meinem Buch: Παναγιώτης Δημητρίου Τερζόπουλος (Panos Terz), Εγκυκλοπαιδική και Κοινωνική Μόρφωση, Εκλαϊκευμένα: Φιλοσοφία, Διεθνές Δίκαιο, Διεθνείς Σχέσεις, Πολιτολογία, Πρώτος Τόμος (Enzyklopädische und Allgemeinbildung, populärwissenschaftlich: Philosophie, Völkerrecht, Internationale Beziehungen, Politik, Erster Band) ), ISBN: 978-620-0-61337-0, Saarbrücken 2020, 289 Seiten, S.,110.