Völkerrechtsnormen ,Charakter, Merkmale, Struktur, Bedeutung, Völkerrechtstheorie
Völkerrechtsnormen als Gegenstand der Völkerrechtstheorie
Charakter und Merkmale der Völkerrechtsnormen
Für die Zwecke der Normbildungstheorie im Völkerrecht ist jene Definition besonders geeignet, nach der die Rechtsnorm eine „allgemeinverbindliche, formalbestimmende allgemeine Verhaltensregel“1 ist. Eine ähnliche Auffassung wird von mehreren Völkerrechtlern vertreten.2 Als Verhaltensregel ist ferner die Rechtsnorm ein „allgemeinverbindlicher, gleicher Maßstab für das Handeln“ jedes Rechtssubjekts. Insofern besitzt jede Rechtsnorm Aufforderungscharakter. Demnach sind die Völkerrechtsnormen das allgemeinverbindliche Maß für das notwendige und mögliche Verhalten der Staaten innerhalb des Gesamtsystems der internationalen Beziehungen.
Die einzelne Rechtsnorm ist im Wesen nach „die kleinste sinnvolle Einheit des Systems des geltenden objektiven Rechts, für die die allgemeinen Eigenschaften des Rechts zutreffen“.3. Dabei handelt es sich um folgende Eigenschaften des Rechts: a) Die Allgemeinheit (Generalität). Sie bedeutet in erster Linie, dass die Rechtsnormen für mehrfache Anwendung durch die Rechtssubjekte bestimmt sind und für ihr Verhalten gleiche Maßstäbe setzen. Es wird also von den konkreten Sachverhalten abstrahiert und es werden ungleiche, aber gleichartige Rechtssubjekte und Vorgänge am gleichen Maßstab gemessen.
Die Generalität bedeutet ferner, dass die in den Rechtsnormen fixierten Handlungsaufforderungen abstrakten Charakter besitzen. Die allgemeinen Verhaltensmaßstäbe können individualisiert werden. b) Die Rechtsnormen haben außerdem Aufforderungscharakter. Er kann von unterschiedlicher Intensität und Schärfe sein.
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1. Vgl. ähnlich: UNITAR-Studie vom Oktober 1984 (A/39/504/Add. 1) unter Berufung auf das „Concise Oxford Dictionary“ (Norm als legitimiertes rechtlich vorgeschriebenes Verhalten).
2. Es seien beispielsweise einige genannt : I. I. Lukaschuk, Der Mechanismus der völkerrechtlichen Regulierung; Kiew, 1980, s. 27; D. B. Lewin, Das Völkerrecht, die Außenpolitik und die Diplomatie, Moskwa, 1981, S. 96 (beides in Russisch); G. Morelli, Nozioni di diritto internazionale, Padova, 1963, p. 60; H. Neuhold et alt., Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Band 1, Wien, 1983, (darin Herausgeber-Bemerkung: Normen als „Verhaltensmuster“), S. 2.
3. W. Grahn, Die Rechtsnorm – eine Studie, Leipzig, 1979, S. 6.
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Diese rechtstheoretischen Erkenntnisse können etwa modifiziert und differenziert von der Völkerrechtstheorie übernommen und verwendet werden. In einem hohen Abstraktionsgrad stellt die Rechtsnorm auch im Völkerrecht die kleinste sinnvolle Einheit und die „primäre Zelle“ dar.4 Während jedoch die Eigenschaften der Allgemeinheit, Allgemeinverbindlichkeit und Abstraktheit für allgemeine Prinzipien und Normen gelten, ist dies bei den konkreten Vertragsnormen nicht unbedingt der Fall. Die Eigenschaft hingegen, Verhaltensmaßstab zu sein, gilt für alle Rechtsnormen.
Ebenso stellt das Völkerrecht als Recht gleichen Maß für ungleiche Sachverhalte und Subjekte dar. Gerade diese Eigenschaft macht die Normativität des Völkerrechts aus. Dabei sind jedoch neuere Entwicklungen wie z. B. die bevorzugte Behandlung von Entwicklungsländern zu beachten. In diesem Falle gilt eher der Grundsatz ungleiche Maßstäbe auf ungleiche Rechtssubjekte anzuwenden.
Struktur der Völkerrechtsnormen
Nach gängiger Auffassung in der Rechtstheorie hat eine Rechtsnorm drei Bestandteile:
a) Prämisse (Hypothese). Sie gibt an, unter welchen Bedingungen eine Rechtsnorm verwirklicht werden muss. Sie legt ferner fest, unter welchen Umständen und Bedingungen für welche Rechtssubjekte Rechte und Pflichten entstehen.
b) Disposition (Erlaubnis, Gebot, Verbot). Sie legt das Verhältnis fest, das beim Vorliegen der Prämisse von den betreffenden Rechtsadressanten verbindlich gefordert wird. Sie enthält damit die eigentliche Verhaltensregeln.
c) Sanktion. Sie bestimmt die Rechtsfolgen, die für jeden Normadressaten eintreten, der die Disposition verletzt bzw. nicht verwirklicht.
Da es aber schwierig ist, in jeder Rechtsbestimmung diese Elemente zusammen zu finden, wird seit einiger Zeit von einzelnen Rechtstheoretikern vorgeschlagen, in einer Rechtsnorm nur zwei Elemente zu sehen: Tatbestandteil und ein Folgehandlungsteil (hauptsächlich Sanktionen) mit einem Operator. Für gleichartige Situationen und Bedingungen (Tatbestand) gebietet, verbietet oder erlaubt (Operator) sie ein angegebenes Verhalten (Folgehandlung).5 Dabei gestaltet der Operator („ist verpflichtet“, „darf“, „ist
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4. Vgl. auch I. I. Lukaschuk, (Anm. 154), S. 30.
5. W. Grahn, Recht als eine besondere Widerspiegelung der Gesellschaft, in: Staat und Recht, 1982 (2), S. 2.
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verboten“, „muss“), eindeutig Rechtsnormen von allgemeinen Aussagen, Werturteilen und Fragen zu unterscheiden.6 Gemäß der hier vorgestellten Zweigliederungs-Konzeption wird also jede Rechtsnorm betrachtet als eine durch einen deontischen (Gebots-, Verbots- oder Erlaubnis) Operator verknüpfte Beziehungen zwischen einem Tatbestand und einer Folgehandlung.
Im Prinzip kann dieser modernen Konzeption von der Rechtsnormstruktur von der Völkerrechtswissenschaft übernommen werden. Zugleich ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Sanktion nicht in jeder einzelnen Rechtsnorm, sondern vielmehr im Völkerrechtssystem und zwar im Institut der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit enthalten ist. Ginge man von der Dreigliederungs-These aus, so wäre es kaum möglich, alle drei Elemente in einer Völkerrechtsnorm zu finden. Deshalb ist in der Völkerrechtstheorie diese überholte These abzulehnen.
Es kann somit festgestellt werden: Einerseits gehört die Sanktion zum Recht und ganz allgemein gesehen, auch zur Rechtsnorm,7 andererseits ist sie im Völkerrecht nicht unbedingt bei jeder Rechtsnorm als ein konkret ausgewiesenes Strukturelement anzutreffen, sondern im Gesamtsystem des Völkerrechts.
Es kann aber auch festgestellt werden, dass es inzwischen im Interesse von Entwicklungsländern Völkerrechtsnormen gibt, die nicht unbedingt Sanktionen vorsehen. Hierbei handelt es sich um Normen zur bevorzugten und nichtreziproken Behandlung von Entwicklungsländern. Versucht man jedoch nachzuweisen, dass auch Resolutionen der UN-Vollversammlung Rechtsnormen seien8 – sie sehen in der Regel keine Sanktionen vor – so ist dies nicht überzeugend. Die rechtliche Sanktion wird ferner ziemlich lato sensu so aufgefasst, dass Reaktionen der öffentlichen Meinung miterfasst werden. Im Völkerrecht sollte jedoch diese eminente Frage eher lege strictum betrachtet werden.
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6. Vgl. H. Klenner, Zur logischen Struktur sozialistischer Rechtsnormen (Thesen), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der riedrich-Schiller-Universität Jena, 1966, S. 451 ff.
7. Vgl. auch M. Bos, will an order in: the nation-state system, in: Netherlands International Law Review, 1982 (XXIX – 1), p. 22.
8.So R.-J. Dupuy im Zusammenhang mit dem Entwicklungsvölkerrecht und dem Umweltschutz. Vgl. Droit déclaratoire et droit programmatoire: de la coutume souvage al la „soft law“, in: L´élaboration du droit international public, Paris, 1975, p. 147.
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Bedeutung der Völkerrechtsnormen
Die Rechtsnorm ist das zentrale Element des Systems der rechtlichen Regelung,des gesamten rechtlichen Normenbildungs- und –durchsetzungsprozesses und damit das Kernstück des Völkerrechts. Dies gilt insbesondere für die Prinzipien und Normen mit einem ius cogens-Charakter.
Auf Grund ihrer volitiven Natur vermögen die Rechtsnormen nicht nur Interessen widerzuspiegeln, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse aufrecht zu erhalten und auch zu gestalten. D. h., dass die Rechtsnormen eine passive sowie eine aktive, eine statische sowie eine dynamische Funktion haben. Entstehen zwischen der Widerspiegelungs- und der Gestaltungsfunktion der Rechtsnormen irgendwelche Widersprüche, dann können diese nur durch die souveränen Staaten im Rahmen des komplexen Normenbildungsprozesses überwunden werden.
Dies bedeutet, dass angesichts der Existenz von souveränen Staaten die Rechtsnormen ex nihilo und automatisch weder entstehen noch vergehen. Es ist also so gut wie ausgeschlossen, dass sich über Nacht aus einer res necessaria (z. B. Entwicklung in der Dritten Welt) ein ius necessarium (z.B. ein „Recht auf Entwicklung“) herausbildet.
Nur durch das konsuale Wirken der souveränen Staaten und auf der Basis gegenseitiger Kompromisse können Rechtsnormen geschaffen werden.
Quelle : Panos Terz, Die Völkerrechtstheorie, Versuch einer Grundlegung in den Hauptzügen, Pro theoria generalis Scientiae Iuris inter Gentes, in : Papel Politico, 2006/11/2, S.683-737. hrsg, von der Facultad de Ciencias Politicas y Relaciones Internacionales , Pontificia Universidad Javeriana.